„Vergib mir, Bruder Ti-curú!" flüsterte der Indianer. „Wir sind viele hungrige Männer, die Fleisch brauchen, um stark zu werden, und wir werden dich in unserem Lager ehren und rühmen."
Er trat an das getötete Tier heran, lehnte den Bogen, die Pfeile und die Bronzeaxt an einen Baumstumpf und zog ein kurzes Feuersteinmesser aus dem Gürtel. Wenn man ein Wasserschwein nicht sofort aufbricht und ihm die Eingeweide herausnimmt, bekommt das Fleisch oft einen unangenehmen Beigeschmack.
Adlerauge begann seine Arbeit, aber er hatte gerade den ersten Schnitt gezogen, als er plötzlich ein schwaches Geräusch hinter sich vernahm. Es klang fast wie ein heftiger Atemzug.
Das Feuersteinmesser entfiel der Hand des Indianers. Er wußte nur zu gut, was dieses Geräusch zu bedeuten hatte.
Vorsichtig streckte er den Arm nach der Axt aus. Dann richtete er sich auf und wandte sich jäh um, die Waffe zum Schlag erhoben. Zwölf Schritt von ihm entfernt stand ein Jaguar. Er hatte die Ohren nach hinten gelegt, und sein Schwanz peitschte nervös von einer Seite zur anderen.
Die beiden Jäger, der Mann und das Raubtier, maßen sich mit den Blicken.
Der Indianer verlagerte sein Gewicht auf die Zehen. Die Knie hielt er leicht durchgedrückt, und die Hände umschlossen den Stiel der Axt, so daß die Knöchel unter der braunen Haut weiß wurden. Das war das einzige sichtbare Zeichen seiner Spannung.
Der Jaguar duckte sich halb, die breiten Hintertatzen unter dem Körper. Er war bereit, wie von einer stählernen Feder geschleudert nach vorn zu schnellen und die Zähne und Krallen in das zweibeinige Geschöpf zu graben, das da zwischen ihn und seine Beute getreten war. Lange hatte der Jaguar die Wasserschweine belauert, ihn quälte der Hunger. Der Blutgeruch des toten Tieres lockte und zog ihn, aber das zweibeinige Wesen sah gefährlich aus.
Wilde Tiere pflegen sich nur selten unnötigen Gefahren auszusetzen. Dieser Jaguar war noch nie einem Menschen begegnet, und eben darum fühlte er sich nicht sicher.
Der Indianer veränderte die Stellung des einen Fußes.
Die große gefleckte Katze zuckte bei dieser Bewegung zusammen und stieß ein drohendes Knurren aus. Sie verzog die Oberlippe, so daß ihre gelblichen Zähne schimmerten.
Adlerauge verharrte reglos und wartete. Er wußte, die nächste Bewegung würde vermutlich zu einem wütenden Angriff des Tieres führen, und seine Aussichten, einem solchen unversehrtzu entgehen, waren ziemlich gering.
Das Warten wurde allmählich unerträglich. Der Indianer fühlte, wie ihm der kalte Schweiß auf die Stirn trat. Der Jaguar wechselte unruhig die Stellung. Seine Muskeln spielten unter dem kurzen, dichten Fell. Da raschelte es oben am Hang. Ein halbverfaulter Ast knackte. Einige Sekunden später raschelten ein paar welke Blätter. Eine Liane schabte an einem harten Gegenstand.
Der Jaguar und Adlerauge wandten gleichzeitig die Köpfe und warfen einen raschen Blick in die Richtung, aus der die Geräusche kamen.
In einer Lücke zwischen den mannshohen Grasbüscheln sah Adlerauge Haifischzahn. Er hielt den Bogen schußbereit in den Händen.
Mit einem einzigen Blick hatte der Halbkaribe die Situation erkannt. Er hob den Bogen, zielte und schoß.
Es war ein guter Schuß, aber ein einziger Pfeil reichte nicht aus, um einen Jaguar zu töten, wenn er nicht sofort ins Herz traf. Der Pfeil drang einige Fingerbreit zu hoch durch die Rippen des Tieres. Mit kurzem, heiserem Gebrüll fuhr die große Katze herum und stürzte sich auf den Schützen.
Haifischzahn hatte sofort den Bogen fallen lassen und die Keule an sich gerissen, aber die Bestie hatte ihn erreicht, ehe er zu einem tödlichen Schlag ausholen konnte. Das einzige, wozu ihm noch Zeit blieb, war, dem Kopf des Raubtiers einen kräftigen Schlag zu versetzen und sich dabei gleichzeitig zur Seite zu werfen, um dem Angriff auszuweichen.
In Sekundenschnelle standen sich beide wieder gegenüber. Für einen Sprung des Jaguars reichte der Platz nicht aus. Er erhob sich auf die Hinterbeine und schnappte nach dem Gesicht des Jägers.
Haifischzahn hielt die Keule mit beiden Händen umfaßt und hieb damit dem Raubtier quer in den Rachen. Das harte Caimancilloholz krachte zwischen die Reißzähne. Die langen spitzen Krallen an den Tatzen der Bestie gruben sich in die Arme des Mannes.
Einen Augenblick verharrten die beiden aneinandergelehnt, jeden Muskel gespannt, um nicht hintenübergeworfen zu werden.
Der Jaguar biß wütend nach der Keule und entriß sie Haifischzahn. Der Indianer fuhr seinem Feind mit den Händen an die Gurgel. Es gelang ihm, blitzschnell seinen langen Knochendolch aus dem Gürtel zu ziehen. Die Krallen des Raubtiers gruben sich in dem Augenblick in seine Schultern.
Haifischzahn wurde es schwarz vor den Augen. Noch einen Augenblick...
Aber jetzt vernahm er Adlerauges Kriegsruf. Eine blinkende Axt pfiff durch die Luft und drang dem Jaguar tief in den Schädel. Die Pranken lockerten den Griff. Ermattet und blutend taumelte Haifischzahn rückwärts und blieb an einen Baum gelehnt stehen. Er sah, wie Adlerauge ein zweites Mal mit der Axt auf die Bestie einschlug.
Mit großer Willenskraft überwand Haifischzahn das Schwindelgefühl und richtete sich auf. Die gefleckte Riesenkatze lag reglos in dem blutigen, niedergetrampelten Gras, davor stand Adlerauge, die Axt zu einem neuen Schlag erhoben, der jedoch nicht mehr nötig war.
Zwei kleine Feuer brannten in einer Senke am Rande des großen Mangrovensumpfes, eine Wegstunde von dem Dorf der Kariben entfernt.
Adlerauge und seine Männer saßen um die Feuer. Haifischzahn lag auf einem Lager von Palmenblättern. Man hatte ihm Arme und Schultern verbunden, so gut es ging. Er fühlte sich bereits wieder besser, obwohl er von dem Blutverlust noch schwach war.
Die Kanus hatten sie in dem dichten Uferdickicht versteckt, wo selbst ein scharfäugiger Indianer diese nur durch Zufall entdecken konnte. Die Nachtbrise strich kühl durch den Wald. Grillen und Zikaden musizierten. Zahllose Feuerfliegen — leuchtende Käfer — flogen herum. Manche von ihnen leuchteten nur dann und wann ein wenig auf, andere verbreiteten ständig einen grünen Schein.
Adlerauge hockte am Boden und verfolgte nachdenklich den Flug der Käfer. Ein Gedanke nahm immer mehr Gestalt an.
Er griff nach einer großen Kalebassenflasche in einem der Körbe und hielt sie gegen den Feuerschein. Dann legte er sie wieder weg und nahm statt dessen den gesäuberten Jaguarschädel in die Hand. Unvermittelt wandte er sich an einen der jungen Männer, die der Gefangenschaft der Kariben entflohen waren.
„Wie viele Menschen sind in dem Dorf, das unser Ziel ist?" fragte er.
„Wenn die Kariben, die in dem Krokodilsumpf umkamen, aus diesem Dorf stammten — und dessen bin ich sicher —, dann werden dort kaum mehr als ein Dutzend Männer sein", antwortete der andere. „Jetzt befinden sich dort wohl in der Hauptsache Frauen und Kinder." „Sie dürften jetzt ziemlich besorgt sein, wo doch der Medizinmann und seine Begleiter nicht zurückgekehrt sind", nahm Adlerauge das Gespräch wieder auf.
„Sicher", erwiderte der andere. „Es kündet großes Unheil an, wenn der Stamm einen Medizinmann verliert, nicht wahr, Haifischzahn?" „Es ist das größte Unheil, das ihnen widerfahren kann", sagte der Verwundete und richtete sich in den Sitz auf. „Sag mir, Häuptling, wie lange gedenkst du mich hier noch liegenzulassen wie ein kleines Kind?"
„Lieg nur still und komm wieder zu Kräften, junger Bruder", antwortete der Häuptling freundlich. „Du wirst sie morgen nacht brauchen, wenn alles so geht, wie ich es mir gedacht habe; denn es hängt dabei ziemlich viel von dir ab. Aber nun laß mich erst einmal hören, was du von meinem Plan hältst."
Haifischzahn legte sich unwillig wieder hin, während der Häuptling sich über ihn beugte und mehrere Minuten lang leise mit ihm sprach. Der Halbkaribe hörte aufmerksam zu, und schließlich brach er in ein leises, herzliches Lachen aus.