Der Alarmruf ertönte. Die Frauen und Kinder eilten in den Wald, um sich dort zu verbergen, während sich die Männer in der Nähe des Strandes versammelten. Einige von ihnen hatten bereits Harnische aus Stöcken angefertigt. Andere nahmen weite, flache Körbe und banden sie wie eine Art Schild an die Unterarme.
Die Kanus auf dem Meer kamen langsam näher.
Für die Arowaken war es ein Trost, daß es nicht mehr als neun waren. Das bedeutete, daß zwei oder drei Arowaken gegen einen Feind kämpfen konnten, wenn die Kariben sie zu überfallen gedachten. „Haltet euch gut verborgen!" sagte Puma. „Sie wissen wahrscheinlich schon, daß wir hier sind, aber wenn sie uns nicht sehen, besteht die Möglichkeit, daß sie unvorsichtig werden und sich bis auf Speerweite nähern. Wenn sie sich an Land begeben, warten wir mit dem Angriff, bis sie sich ein ziemliches Stück von ihren Kanus entfernt haben. Dann werfen wir unsere Speere — und alsdann auf sie mit den Keulen, ehe sie noch dazu kommen, uns mit Pfeilen zu beschießen! Keiner wirft eine Waffe oder zeigt sich, ehe ich gerufen habe!"
Die Männer nickten ernst und umspannten ihre Jagdspeere und Harpunen fester.
Nun waren die Kanus schon ziemlich nahe.
Puma stand einige Schritte tief im Mangrovenwald und beobachtete sie durch eine Öffnung im Astwerk.
Da stimmte doch etwas nicht! Was war denn das für ein Kriegszug? Die hatten ja Frauen und Kinder mit in den Kanus! Es waren ungefähr sechzig erwachsene Männer und ungefähr halb so viele Frauen und Kinder.
Ein Mann im Schmuck eines Häuptlings erhob sich im ersten Kanu und ließ einen weithallenden Begrüßungsruf ertönen.
Die Indianer im dichten Walde trauten ihren Ohren kaum.
Der fremde Häuptling hatte auf arowakisch gerufen, und er sah aus, als gehöre er zu ihrem Volk.
Nun waren die Kanus bereits im flachen Wasser. Der Häuptling sprang über Bord und watete an Land. Er trug Pfeil und Bogen wie ein Karibenkrieger, aber es bestand kein Zweifel, daß er ein Bocaná-Arowake war.
Puma kam der Mann bekannt vor. Ja, jetzt erinnerte er sich. Der Fremde war Sägefisch, der Häuptling des Dorfes am Reiherfluß, der vor einigen Mondzeiten mit seiner ganzen Schar verschwunden war. Alle hatten geglaubt, er und sein Volk wären von den Kariben erschlagen worden oder auf der Flucht ertrunken. Und jetzt war er hier mit neun Meerkanus und sechzig Kriegern!
Das war eine große Überraschung, aber eine angenehme.
Puma legte Speer und Keule beiseite, verließ sein Versteck in den Büschen und betrat den Sandstrand, um dem Häuptling entgegenzugehen.
„Mein Bruder Sägefisch ist uns willkommen", sagte er. „Aber wie kommt es, daß mein Bruder und sein Volk in großen Meerkanus angefahren kommen?"
„Drei von ihnen haben wir selbst gebaut", erwiderte Sägefisch, „die sechs anderen haben wir den Kariben abgenommen."
„Die Bogen und Pfeile auch?"
„Mit denen verhält es sich ebenso. Einen Teil nahmen wir den besiegten Feinden ab, und die anderen haben wir und die Krieger des Eisvogelvolkes angefertigt. Wir besitzen viel mehr, als wir brauchen, dazu viele, viele Kriegspfeile — so viele, daß mehrere Männer nötig sind, um sie zu tragen. Wenn mein großer Bruder Puma will, können wir so viele von seinen jungen Männern bewaffnen, wie drei Krieger Finger haben. Und dann bleiben immer noch Bogen übrig."
Die dunklen Augen des älteren Häuptlings funkelten erfreut. Dreißig Bogenschützen zu beiden Seiten des Sundes würden einem feindlichen Kanu das Durchkommen so gut wie unmöglich machen, und unter einem solchen Pfeilregen aus einem Kanu an Land zu waten würde ein gefährliches Unternehmen sein.
Das letzte Drittel der Bogenschützen mußte zurückbleiben, um im entscheidenden Augenblick zur Überraschung des Feindes eingesetzt zu werden.
Es war nicht zuviel gesagt. Diese unerwartete Verstärkung machte die Siegesaussichten um ein Vielfaches gewisser.
Die Neuigkeit, daß es Arowaken gelungen war, Kariben zu besiegen und Kanus und Waffen von ihnen zu erobern, würde auch Pumas Kriegern neuen Mut geben, und das war mindestens ebenso wichtig. Die Neuankömmlinge verließen ihre Boote und wateten an Land; und bald wurden sie von den anderen umringt.
Die Flüchtlinge vom Mangrovensee hatten in Pfeil und Bogen bisher fast etwas Übernatürliches gesehen, etwas, was die bösen Zauberer der Feinde ersonnen hatten, um sie zu verderben. Es schien so gut wie aussichtslos, wenn sie gegen solche Künste zu kämpfen versuchten. Aber wenn nun Menschen ihres eigenen Stammes solche Geräte herstellen und dazu noch die fürchterlichen Kariben mit ihren eigenen Waffen besiegen konnten, dann war die Gefahr jener Zauberei wohl doch nicht so groß.
Puma und zwei weitere Häuptlinge übernahmen selbst Bogen, und dreißig junge Männer wurden ausgewählt, um sich von den InselArowaken im Bogenschießen unterweisen zu lassen. Das war für die Insel-Arowaken sehr anstrengend nach der langen Fahrt, aber sie wußten, daß sie keine Zeit verlieren durften, wenn ihre neuen Kameraden bereit sein sollten, den Kariben entgegenzutreten. Eine Stunde nach der Ankunft begannen einige die neuen Freunde zu unterrichten. Andere paddelten die Kanus durch den Sund und versteckten sie in den Mangroven. Alle Familien des Lagers begannen sich zu regen, um den Neuangekommenen eine zusätzliche kleine Mahlzeit zu bereiten.
Am selben Abend saßen Sägefisch, Adlerauge, Grauer Reiher, Haifischzahn und Feuersteinherz vor einem Halbkreis von ernsten Häuptlingen und Medizinmännern. Der alte Großvater Mummel hatte all seinen Schmuck angelegt. Er saß zu seiten des Oberhäuptlings.
Zuerst mußte Sägefisch die Abenteuer aller Gruppen auf den Inseln und in dem Mangrovensumpf erzählen. Dann fragte Puma die anderen der Reihe nach, wie sie über die Gefahr dachten, die ihnen durch die Kariben drohte.
Alle waren sich einig, daß sie sich verteidigen und die Kariben zurückschlagen sollten; sie konnten sich jedoch nicht einigen, wie sie es am besten beginnen sollten.
In der Ratsversammlung gab es fast ebenso viele Ansichten darüber wie Häuptlinge. Das kam vor allem daher, weil man einen Kampf zum erstenmal vorbereitete.
„Was schlägt mein Bruder Sägefisch vor?" fragte schließlich Puma. Alle schwiegen erwartungsvoll. Der Häuptling vom Reiherfluß hatte wegen seiner kühnen Taten hohes Ansehen gewonnen.
Sägefisch verharrte noch einen Augenblick schweigend, ehe er sagte: „Wir sollten tun, was die Kariben am wenigsten erwarten."
Die anderen Häuptlinge blickten sich verwundert an. Das klang zwar gut, und Sägefisch war ohne Zweifel ein großer Krieger, aber wie sollte man erraten können, was die Kariben am wenigsten erwarteten?
Sägefisch wandte sich an Haifischzahn.
„Was erwarten die Kariben jetzt von uns ?" fragte er. „Du, der du so lange unter ihnen gelebt hast, dürftest das wissen."
Haifischzahn fühlte sich geschmeichelt.
„Sie erwarten wohl zweierlei", sagte er voller Überzeugung. „Entweder daß wir die Flucht ergreifen oder daß wir hier bleiben und uns wehren."
„Also erwarten sie nicht, daß wir kommen und sie angreifen?" fragte der Häuptling.
„Nein", antwortete Haifischzahn mit erstauntem Gesicht, „das erwarten sie nicht."
Sägefisch begegnete dem Blick Pumas.
„Mein großer Bruder hat geantwortet", sagte Puma leise.
Gemurmel erhob sich bei den Versammelten. Zuerst glaubten fast alle, es handle sich um einen unmöglichen Einfall, der nur ins Verderben führen könne. Aber als sie sich die Sache nach und nach eingehender überlegten, begannen sich mehrere zu fragen, ob Sägefisch vielleicht nicht doch recht habe.
Es kam zu einer neuen Beratung, und schließlich wurde beschlossen, daß die acht großen Kanus mit jeweils zehn Bogenschützen die Kariben angreifen sollten, und zwar in der Nacht vor dem Vollmond, wenn sie ihr großes Fest feierten. Wenn kein allzustarker Wind aufkam, sollte der Angriff vom Meer aus erfolgen, sonst von der Flußmündung heraus. In jeder Kanubesatzung sollten sich zwei Männer mit schweren Keulen befinden, deren Aufgabe es war, soviel Boote des Feindes als möglich zu zerstören, während die anderen kämpften.