„Ebenso gern würde ich dann unbewaffnet einer Jaguarmutter mit Jungen entgegentreten !" antwortete der Halbkaribe. „Wo sind denn die Pfeile eingeschlagen?"
„Zwei fielen zwischen die Feuer. Der dritte traf den Medizinmann." „Ist er tot?"
„Ja."
„Und was haben die Kariben dann getan?"
„Es sah aus, als ob sie ihre Waffen in die Feuer warfen." Haifischzahn nickte kurz und schwieg eine Zeitlang.
„Wollen wir nun heimfahren?" fragte er dann. „Mit den Kariben wird es so lange keinen Krieg mehr geben, wie jene Häuptlinge am Leben sind."
Sägefisch überlegte einige Minuten.
„Haifischzahn hat wahrscheinlich recht", sagte er dann, „aber es ist wohl das beste, wenn wir uns vorsichtig verhalten."
„Was sollten wir deiner Meinung nach tun, mein Bruder?" fragte Puma.
„Wir werden ein Stück zurückfahren und uns in einer Flußmündung verbergen. Der Großen Schildkröte senden wir eine Botschaft, daß er und seine Krieger sich dem Dorf fernhalten sollen. Sie können ihr Lager weiter hinten an einer der Pflanzungen aufschlagen, sie sollen jedoch darauf achten, daß sie niemand sieht. Dann lassen wir einige Späher auf hohe Bäume klettern und Ausschau halten, ob sich die Kariben wirklich davonmachen. Bleiben sie hier, dann können wir sie ja morgen in der Nacht angreifen.”
„Sie werden nicht hierbleiben", sagte Haiflschzahn.
In der Morgendämmerung meldeten die Späher, in dem Dorf am Reiherfluß seien weder Rauch noch andere Lebenszeichen zu bemerken. Adlerauge nahm ein Dutzend der besten Bogenschützen mit und schlich sich vorsichtig an das Dorf heran. Noch ehe sie den halben Weg hinter sich hatten, stießen sie auf eine Schar unbewaffneter Männer, Frauen und Kinder. Es waren Arowaken, ehemalige Sklaven der Kariben.
„Die Kariben sagten, wir wären frei und könnten gehen, wohin wir wollten", erklärte einer der Männer. „Sie sind gleich nach Mitternacht in ihren großen Kanus davongefahren. Sie sagten, die Arowaken würden künftig Ruhe vor ihnen haben, sie gedächten weit, weit wegzufahren, viele Mondzeiten weit, und nie zurückzukehren."
Er zeigte hinaus aufs Meer. Dort waren die letzten Karibenboote als kleine schwarze Punkte zu sehen.
Das war das letzte, was die Arowaken an der großen Meeresbucht für viele, viele Jahre von ihren Feinden sahen.
Sie bauten ihre Dörfer rasch wieder auf und legten neue, größere Pflanzungen in den Uferwäldern an.
In ihrer schönsten Medizinhütte verwahrten sie den Bogen des Kriegsgottes. Zwei der geschicktesten Weberinnen des Stammes fertigten ein schönes Futteral dafür an, und er wurde in Ehren gehalten, weil er dem Volk zum Frieden verholfen hatte.
Adlerauge, Grauer Reiher, Feuersteinherz und Haifischzahn wurden zu Häuptlingen ernannt. Einige Jahre später teilte sich der Stamm, und die einzelnen Gruppen ließen sich an verschiedenen Stellen nieder.
Haifischzahn und seine kleine Gruppe fühlten sich draußen im Meer am wohlsten, deshalb fuhren sie auf die Inseln hinaus und wurden dort seßhaft. Aber die Inseln waren nicht groß genug, um viel darauf anzubauen; daher lebten die Bewohner größtenteils vom Fischfang. Später kehrte eine Anzahl von ihnen in Sägefischs größtes Dorf zurück, das ein Stück landeinwärts in der Nähe der großen Seen angelegt worden war. Dort wohnen sie noch heute.
Adlerauge, Grauer Reiher und Feuersteinherz nahmen einen Teil des Stammes mit sich und fuhren den großen Fluß hinauf. Man gab ihnen den heiligen Bogen mit, und dieser wurde schließlich in einem steinernen Tempel auf dem Berg der Gewittergöttin aufgehängt.
Wie der Bogen des Kriegsgottes jedoch dorthin gelangte und wie es kam, daß Adlerauge dem Volk, das Hügel baute, dem Volk, das auf Bäumen wohnte und dem Volk der Boaschlange sowie der Priesterin Pacurtú-né begegnete und wie er mit dem Ungeheuer Nusi kämpfte das ist eine andere Geschichte.
Nachschrift
Die Handlung dieses Buches spielt einige Jahre vor der ersten Reise des Kolumbus — in den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts. Das Gebiet, das darin geschildert wird, liegt an der Nordküste der Republik Kolumbia, und zwar zwischen der Stadt Cartagena und der Mündung des Flusses Sinú. Die große Meeresbucht heißt jetzt Golf von Morrosquillo, der von mir genannte „Reiherfluß" ist der Strom Pechilin, und heute befindet sich dort das Dorf Tolú, wo einst die alte Wohnstätte der Bocanás war.
Die „Flache Landzunge" ist das Cabo San Bernardo, und die Inseln, zu denen die Bocanás ihre Zuflucht nahmen, gehören zu der San-Bernardo-Gruppe.
Eben in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts fanden unter den Indianerstämmen an der Küste des nördlichen Südamerikas und draußen auf den Antillen gewisse Umgruppierungen statt. Die Karibenindianer, die offenbar aus dem heutigen Venezuela und Guyana kamen, drangen an der Küste entlang von Insel zu Insel vor. Zu der Zeit vor der ersten Reise des Kolumbus hatten sie bereits Puerto Rico bevölkert, waren jedoch noch nicht über die Meerenge nach Haiti vorgedrungen.
Viele der Völker, die sich langsam vor den Kariben zurückzogen, wurden Arowaken genannt. Eine Anzahl heutiger Forscher erhebt Einspruch gegen diesen Namen; sie halten ihn aus gewissen Gründen für nicht zutreffend. Ob man die Bocaná-Indianer wirklich Arowaken nennen kann, vermag ich nicht mit Sicherheit zu sagen; sie scheinen jedenfalls dem Kulturkreis angehört zu haben, den man gewöhnlich mit diesem Namen bezeichnet und zu dem vermutlich auch die Ahnen der Goajira-Indianer gehörten, ehe sie ein Hirtenvolk wurden. Die Gegend um den Golf von Morrosquillo und den Unterlauf des Flusses Sinü war offenbar eine Art Mittelpunkt und Versammlungsplatz verschiedener Indianervölker. Ausgrabungen, die von dem hervorragenden Archäologen und bekannten Erforscher der Indianer Kolumbiens, Professor Gerard Reichel-Dolmatoff, vorgenommen wurden, zeigten, daß sich in der Gegend um Tolúviejo und um das Dorf Las Piedras nicht weniger als drei Kulturen begegnet sind — nur etwa zwanzig bis dreißig Kilometer von dem heutigen Dorf Tolú entfernt. Eine Stelle in der Nähe des Momil-Sees und nahe am Unterlauf des Sinú ist, wie die Ausgrabungen zeigen, dreitausend Jahre lang so gut wie ohne Unterbrechung besiedelt gewesen. Das dürfte die längste ununterbrochene Kulturperiode sein, die man gegenwärtig in diesem Teil Südamerikas kennt. Dort kann man beobachten, wie neue Kulturelemente hinzugekommen sind, wie ein Stamm von Maniokbauern den Anbau von Mais lernte, wie man neue Geräte anzuwenden begann und so weiter.
Ich schulde Professor Reichel-Dolmatoff Dank für viele Hinweise und dafür, daß er mir großzügig Einblick in sein ungemein reichhaltiges Material gestattete und mich an mehreren seiner Forschungsreisen teilnehmen ließ, unter anderen an den Betanci-See und an den oberen Sinú. Ich muß jedoch darauf hinweisen, daß ich keinerlei Anspruch auf ethnologisches, archäologisches und ethnographisches Fachwissen erhebe und daß Fachspezialisten manches finden können, was einer Berichtigung bedarf. Einem intensiv arbeitenden Zoologen bleibt leider nicht viel Zeit für eingehendere Studien auf anderen Wissensgebieten.
Was die natürliche Umgebung angeht, besonders die Tier- und Pflanzenwelt, so mag vielleicht der Hinweis genügen, daß ich als Naturforscher insgesamt fünfzehneinhalb Jahre in diesen und den angrenzenden Gebieten tätig gewesen bin, hauptsächlich in den heutigen Departements Bolivar und Cordoba.
Was die Schilderung der Indianer und ihres täglichen Lebens betrifft, so sind meine Quellen zum großen Teil die noch heute lebenden Indianerstämme gewesen, die die wesentlichen Dinge ihrer ursprünglichen Kultur beibehalten haben. Kurz vor dem zweiten Weltkriege lebte ich zwei Jahre hintereinander als Mitglied eines Stammes der Choc6-Indianer in der Gegend um die Quellgebiete des Rio Tarazá und des Rio San Jorge, und danach habe ich verschiedentlich kürzere Perioden — von ein paar Wochen bis zu mehreren Monaten — unter den Engverá- und Tuchin-Indianern gelebt. Kontakte mit anderen Stämmen haben dabei nicht gefehlt.