Am meisten hatte sich jedoch der Ausdruck seines Gesichts verändert. Es war jetzt nicht mehr eifrig und jungenhaft, sondern hatte einen Zug von stillem Ernst bekommen.
„Ja", antwortete er nach einigen Minuten, „es sieht so aus. Ich habe so etwas wie eine Antwort erhalten. Mit der Zeit wird das sicher noch besser werden, aber für den Notfall taugt es schon so, wie es jetzt ist."
Er hielt die Hände vor sich hin und sah sie an. Sie waren voller Schwielen und Reibwunden; sie zeugten von harter Arbeit.
„Wenn das alles ist, was du mir zu zeigen hast, dann ist es wohl am besten, du kommst mit mir zurück", sagte Sägefisch mit sorgenvoller Miene. „Die Schwester meiner Frau wurde vorgestern von einem großen Barracuda angegriffen. Wir konnten sie noch retten, aber nun schwimmt das Untier von einem Fisch den ganzen Tag am Strand hin und her, als ob es uns bewacht. Viele beginnen schon zu glauben, dieser Barracuda sei gar kein richtiger Fisch, sondern ein böser Wassergeist, den die elenden Zauberer der Kariben hergeschickt haben, um uns Schaden zuzufügen. Er kommt nie in die Reichweite einer Harpune, und er beißt nicht am Haken an. Da wir unsere Nahrung nun nicht mehr vom Meeresboden auflesen können, muß jeder Mann und jeder Junge im Dorf von den Flößen beim Angeln helfen."
„Ein Barracuda, der Menschen frißt, hast du gesagt, Häuptling?" Läufer erhob sich so voller Freude, als hätte man ihm anstatt schlechter Nachrichten eine recht gute überbracht. „Dann komm, wir wollen ihn gleich aus dem Meer ziehen, damit wir ihn noch zum Mittagessen zubereiten können!"
„Glaub mir, das ist nicht so leicht getan. Ich sagte dir doch schon, er beißt auf keinen Köder und scheint genau zu wissen, wie weit wir einen Speer werfen können."
„Sicher ist es so, wie du sagst, Häuptling. Aber ich glaube kaum, daß er weiß, was ich für ihn bereithalte — mag ihn getrost ein böser Medizinmann geschickt haben."
Läufer trat an einen alten, schräg geneigten Baum und steckte die Hand in dessen hohlen Stamm.
„Sieh ihn dir an, Häuptling!"
Er wandte sich um und hielt einen leicht gekrümmten Stab in die Höhe, der auf der einen Seite glatt und auf der anderen halb gerundet war und an beiden Enden Einkerbungen hatte. Der Stab war genauso lang wie er selber.
Läufer drückte ein Knie gegen den Stab und bog ihn stärker. Als er krumm genug war, spannte er einen Strang aus gewachsten Fasern zwischen die beiden Einkerbungen.
Dann entnahm er dem Versteck einen Pfeil, setzte das Pfeilende auf die Mitte des Strangs und spannte den starken Bogen mit einem langen, sehnigen Zug.
„Siehst du den großen grauen Fleck da drüben an dem Baumstamm?" fragte er.
Und schon ließ er den Pfeil fliegen. Dieser schlug in den Baumstamm und blieb dort zitternd einige Finger breit neben dem Ziel stecken. Sägefisch sprang von seinem Platz auf und stürzte an den Baum, in dem der Pfeil stak. Er streckte die Hand aus und berührte ihn, als traue er seinen Augen nicht.
„Ein richtiger Bogen!” sagte er schließlich. „Und du kannst auch damit schießen. Aber mir scheint, irgendwie ist er anders als die Bogen der Kariben, obwohl ich diese natürlich nur von weitem gesehen habe."
„So soll es ja auch sein, er soll anders sein als die Bogen der Kariben!" erwiderte Läufer heftig. „Dies ist ein arowakischer Bogen. Unser Bogen, Häuptling! Nimm diesen hier, er soll dir gehören. Ich habe noch einen Bogen und mehrere Pfeile hier in dem Baum, und ich werde noch viel mehr anfertigen, sobald ich kann. Wenn du willst, können wir ja Zielschießen auf den Barracuda machen, da werden wir ja sehen, ob karibische Zauberfische arowakischen Pfeilen gewachsen sind!" Er hielt einige Pfeile aus leichtem, festem Mangeletaholz in die Höhe. Jeder von ihnen war mit einer furchtbaren Spitze versehen,woran sich zwei Reihen von Widerhaken befanden, angefertigt aus den Stacheln, die der Stachelrochen an seinem Schwanz hat.
Eine lange, kräftige Faserschnur war am Schaftende eines jeden Pfeils angebunden.
„Eben diese hier habe ich zum Schießen von Fischen angefertigt", nahm Läufer das Gespräch wieder auf. „Wenn du einverstanden bist, Häuptling, dann können wir beide auf dem kleinen Floß hinausfahren. Wir nehmen Schildkrötenfleisch mit und binden es an ein Stück leichtes Holz, so daß es nicht ins Wasser sinkt. Sehen wir den Barracuda kommen, dann werfen wir die Lockspeise ins Meer. Er wird vermutlich nicht danach schnappen, aber sicher einmal an die Oberfläche heraufkommen, um sich das Fleisch näher anzusehen, und dann schießen wir. Vielleicht ist es am besten, wenn du dich erst ein wenig im Bogenschießen übst, Häuptling? Nein, nimm keinen von diesen Pfeilen. Die Spitze könnte abgehen, und ich habe keine Rochenstacheln mehr. Nimm lieber den hier mit der Spitze aus Schwarzpalmenholz, er fliegt ungefähr genauso weit und ist gut zum Üben."
Läufer hielt jäh inne und schnappte ein paarmal nach Luft Es geschah selten, daß er so lange redete. Aber noch seltener kam es vor, daß ein Indianerjunge den Stammeshäuptling unterweisen mußte.
Sägefisch betrachtete fast demütig den Bogen und den Pfeil in seinen Händen.
„Glaubt mein Bruder wirklich, daß auch ich mit solch einem Ding schießen lerne?" fragte er.
Läufer fuhr zusammen, als er die Worte „mein Bruder" hörte. So redeten sich erwachsene Männer an, besonders bei feierlichen Anlässen.
„Aber ja, mein Vater", erwiderte er. „Viel besser als ich, denn mein Vater ist ein großer Häuptling, und ich bin nur ein kleiner Junge. Wenn mein Vater übt, wird er bald ein besserer Bogenschütze werden als irgendein Karibe."
Sägefisch ließ es sich nicht zweimal sagen, er begann sich sogleich im Gebrauch der neuen Waffe zu üben.
Die ersten Versuche fielen natürlich ungeschickt aus, aber nachdem er es ein dutzendmal probiert hatte, kam er der Sache auf die Spur, und im Lauf einer weiteren Stunde schoß er für einen Anfänger schon recht gut.
„Nun sollte mein Vater die Arme vielleicht ein Weilchen ruhen lassen", riet ihm sein junger Kamerad. „Wenn wir den Barracuda in Schußweite haben, müssen wir versuchen, ihn gleich mit den ersten Pfeilen richtig zu treffen. Wenn wir ihn nur streifen oder verwunden, merkt er, daß wir gefährlich sind, und dann wird es vielleicht schwer werden, auf richtige Schußweite an ihn heranzukommen." Er überlegte einen Augenblick und fuhr dann fort: „Da ist etwas, das ich nicht ganz verstehe. Als ich neulich auf einen Fisch im Wasser schoß, mußte ich mindestens eine Handbreit unter ihn zielen, um ihn zu treffen. Kommt das daher, daß das Wasser die Richtung des Pfeils verändert?"
Der Häuptling hielt die Lider gesenkt und warf ihm einen Seitenblick zu. Ein kluger Junge, dachte er. Hat soeben das Beste zustande gebracht, das je einer aus dem ganzen Stamm geschaffen hat, und ist doch nicht aufgeblasen.
„Woher kriegen wir Schildkrötenfleisch?" fragte Sägefisch.
„Ich habe heute nacht eine Karettschildkröte gefangen”, antwortete Läufer, „aber ich hatte noch nicht die Zeit, sie zu schlachten. Ich habe ihr nur die Beine zusammengebunden, nachdem ich sie auf den Rükken gedreht hatte. Ich wollte morgen zu der kleinen Insel zurückfahren und die Schildkröte mitbringen. Welches Stück soll ich als Köder nehmen?"
„Nimm die Leber, die riecht wohl am stärksten."
Die Schildkröte war bald geschlachtet, und kurz darauf paddelten die beiden Bogenschützen das Floß über den schmalen Sund und über die Schneckenbänke. Dort zogen sie die Paddel ein und ließen das Floß treiben.
Lange Lanze und Fregattvogel, die auf einem hohen Korallenfelsen standen und Ausschau hielten, riefen und zeigten mit den Händen. Sie hatten den Barracuda soeben wieder vorbeistreichen sehen. Läufer nahm die Schildkrötenleber, die fest um einen kleinen Schwimmer von Balsaholz gebunden war. Er warf sie einige Meter vom Floß entfernt ins Wasser und fragte Sägefisch flüsternd: „Ist mein Vater soweit?"