Sir?»
«Ja. Lassen Sie sie an der Pforte antreten, immerhin ist er Kapitän. «Er wandte sich ab und murmelte wie zu sich selbst:»Jedenfalls noch.»
Der Midshipman der Wache rief:»Boot hat abgelegt, Sir!»
Browne hastete in die Poop und fand Bolitho an den Kajütfenstern stehen, als hätte er sich die ganze Zeit nicht bewegt.
«Die Gig der Phalarope legt gleich an, Sir. «Er sah, daß Bo-lithos auf dem Rücken verschränkte Hände sich verkrampften. Leise setzte er hinzu:»Kapitän Emes wird von Ihrem Neffen begleitet, Sir.»
Er hatte irgendeine Reaktion erwartet, aber Bolitho antwortete scheinbar zusammenhanglos:»Für mich waren Stabsoffiziere früher so etwas wie halbe Götter. Sie schufen Sachlagen und trafen Entscheidungen, während wir als Wesen niedrigerer Ordnung lediglich zu gehorchen hatten. Aber jetzt weiß ich es besser. Vielleicht hatte Vizeadmiral Studdart doch recht.»
«Sir?»
«Ach, nichts. Ozzard soll meinen Rock bringen. Wenn ich mich schon mit mir selbst im Widerstreit befinde, wird es Emes bestimmt noch sehr viel schlimmer ergangen sein. Also wollen wir es hinter uns bringen, ja?»
Das Schrillen der Pfeifen, das Stampfen der Ehrenwache an der Schanzkleidpforte drang in die Kajüte.
Als Ozzard ihm in den schweren Galarock half, fiel Bolitho plötzlich wieder das erste Schiff ein, das er befehligt hatte: wie klein, eng und intim war dort alles an Bord! Aber schon damals war er der Meinung gewesen — und daran hatte sich nichts geändert — , daß es die kostbarste Gabe war, die einem Menschen jemals zuteil werden konnte, wenn er ein Schiff anvertraut bekam.
Aber jetzt wurden die Schiffe von anderen befehligt, und er mußte sie alle führen und über ihr Geschick bestimmen. Was auch geschehen mochte, er wollte niemals vergessen, was sein erstes Schiff für ihn bedeutet hatte.
Browne meldete:»Kapitän Emes von der Phalarope, Sir.»
Bolitho trat hinter seinen Schreibtisch.»Ich brauche Sie nicht mehr, Oliver.»
Hätte Bolitho Kapitän Emes an Land oder in anderer Umgebung wiedergesehen, er hätte ihn wahrscheinlich nicht erkannt. Emes hielt sich immer noch sehr gerade, als er jetzt vor dem Tisch stand, den Hut unter den Arm geklemmt, eine Hand fest — zu fest — um den Säbelgriff gekrampft. Aber trotz der langen Wochen vor Belle Ile, bei schönstem Wetter, war Emes leichenblaß. In dem vom Wasser reflektierten Sonnenlicht leuchtete seine Haut wächsern. Er zählte erst 29 Jahre, sah aber um zehn Jahre älter aus.
«Nehmen Sie Platz, Kapitän Emes«, begann Bolitho.»Dies ist ein informelles Gespräch, ich muß Sie aber darüber informieren, daß Sie im günstigsten Falle eine Untersuchung zu erwarten haben, im schlimmsten Falle…«Er hob die Schultern.»Jedenfalls würde ich dann eher als Zeuge auszusagen haben denn als Ihr Vorgesetzter oder als Beisitzer.»
Emes ließ sich vorsichtig auf die Stuhlkante nieder.»Jawohl, Sir. Ich verstehe.»
«Das möchte ich bezweifeln. Aber bevor ich etwas unternehme, muß ich Ihre eigene Version der Ereignisse am Morgen des 21. Juli erfahren, als Styx unterging.»
Emes gab seine Erklärung langsam und überlegt ab, als hätte er für diesen Augenblick schon oft geprobt.»Ich fand mich mit meinem Schiff in der günstigen Lage, einerseits die von See herankommenden französischen Einheiten sehen zu können, andererseits auch die Streitmacht, die Sie mit Styx unter Beschuß nehmen wollten. Da der Feind den Windvorteil hatte, kam ich zu dem Ergebnis, daß uns nicht genug Zeit blieb, zunächst die französischen Landungsboote zu vernichten und uns anschließend rechtzeitig freizukreuzen. Wie befohlen, hielt ich mein Schiff deshalb in Luv, um notfalls.»
Bolitho beobachtete Emes ohne jede Regung. Es würde nicht schwer sein, ihn als Feigling abzustempeln, aber ebenso leicht überkam ihn Mitleid für den Mann.
Er unterbrach Emes mit einer Zwischenfrage:»Als Styx mit dem Wrack kollidierte, wie verhielten Sie sich?»
Emes sah sich um wie ein Tier in der Falle. »Styx hatte keine Überlebenschance. Ich sah sie in voller Fahrt auflaufen, ihre Masten kamen von oben, sie reagierte nicht mehr aufs Ruder. Sie war vom ersten Augenblick an, wie klar ersichtlich, ein Totalverlust. Ich — ich wollte zuerst alle Boote aussetzen und retten, was es noch zu retten gab. Es fällt schwer zuzusehen, wie Menschen sterben.»
«Aber genau das haben Sie getan. «Bolitho war selber überrascht, wie neutral seine Stimme klang; weder Hoffnung noch
Mitleid lag darin.
Emes' Blick zuckte zu ihm hinüber, bevor er wieder gehetzt durch die Kajüte wanderte.
Gepreßt sagte er:»Ich war der ranghöchste Kommandant auf dem Schauplatz, Sir. Da ich nur Rapid mit lediglich vierzehn Kanonen zur Unterstützung hatte, sah ich für ein Rettungsmanöver keine vernünftige Chance. Die feindlichen Schiffe, die unter vollen Segeln mit achterlichem Wind heranstürmten — ein Linienschiff und zwei Fregatten — , hätten Phalarope mit Sicherheit überwältigt. Was hätte ein so altes Schiff wie sie erreichen können? Es wäre ein sinnloses, blutiges Opfer gewesen. Und Rapid wäre ebenfalls dem Feind in die Hände gefallen.»
Bolitho sah an Emes' gequälten Zügen, daß er seine Entscheidung von damals mit all ihren Emotionen noch einmal durchlebte.
«Als ranghöchster Offizier hatte ich auch Verpflichtungen gegenüber Kapitän Duncan von Sparrowhawk. Er war über das Geschehen nicht im Bilde. Auf sich allein gestellt, wäre er als nächster Beute der Franzosen geworden. Das ganze Teilgeschwader wäre ve rnichtet worden, und der Hintereingang zur französischen Küste hätte eine Zeitlang weit offengestanden. «Er blickte auf seinen Hut hinab, den er so fest gegen seine Knie preßte, als könne er Kraft daraus ziehen.»Deshalb beschloß ich, mich aus dem Gefecht zu lösen, und befahl Rapid das gleiche. Danach habe ich den Patrouillendienst und die Blockade der französischen Häfen wie befohlen fortgesetzt. Nachdem Ganymede zu uns gestoßen war, konnte ich die Lücke schließen, die der Verlust von Kapitän Nea-les Schiff hinterlassen hatte. «Mit gramvollen Augen blickte er auf.»Sein Tod hat mich sehr betroffen gemacht.»
Damit ließ er wieder den Kopf sinken und schloß:»Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe, Sir.»
Bolitho lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte Emes nachdenklich. Der Mann hatte weder um Milde gebeten noch um Entschuldigung für sein Verhalten.
«Und nun, Kapitän Emes: Bedauern Sie diese Entscheidung?»
Emes zuckte die Achseln, eine Bewegung, die den ganzen schmächtigen Mann zu schütteln schien.»Um die Wahrheit zu sagen, Sir, das weiß ich nicht. Ich war mir bewußt, daß ich meinen vorgesetzten Stabsoffizier seinem Schicksal auslieferte, indem ich Styx und ihre Überlebenden sich selbst überließ. Eingedenk meiner problematischen Personalakte hätte ich vielleicht alle Vernunft über Bord werfen und kämpfend untergehen sollen. Seither bin ich Offizieren begegnet, die aus ihrer Mißbilligung meines Verhaltens kein Hehl machen. Auch als ich an Bord der Benbow kam, schlug mir Feindschaft entgegen, und es wird genug Kameraden geben, die mich vor Ihnen verdammen. Also ein Kriegsgericht?«Mit einem Anflug von Trotz hob er den Blick.»Ich nehme an, das war unvermeidbar.»
«Aber Sie sind der Ansicht, daß Ihre Lordschaften schlecht beraten wären, wenn Sie vor Gericht gestellt würden?»
Emes kämpfte mit seinem Gewissen, als sei es ein Wesen außerhalb seiner selbst.»Nichts wäre leichter, als an Ihre Gnade zu ap-pelieren, Sir. Schließlich hätten Sie schon in den ersten Minuten des Gefechts von einer verirrten Kugel getroffen werden können, dann wäre ich ohnehin der ranghöchste Offizier vor Ort gewesen. In diesem Falle hätte ich Neale befohlen, das Treffen abzubrechen und sich zurückzuziehen. Und wenn er mir nicht gehorcht hätte, würde nun ihm und nicht mir ein Gerichtsverfahren drohen.»