Das Schiff stampfte schwerfällig in der ablandigen Strömung; die Seesoldaten zurrten ihre Hängematten in den Netzen an der Reling noch einmal fester: ihre einzige Deckung und die Auflage für ihre Musketen, wenn sie später nach einem Ziel suchen würden.
Auf den Seitendecks, unter denen jede Kanone geladen und schußbereit wartete, ging ab und zu eine Gestalt hin und her. Andere enterten auf, um die Kettenschlingen um die Rahen und die schützenden Netze ein letztes Mal zu trimmen, um noch einen Sack mit Schrotkugeln für die Drehbassen im Krähennest hochzuhieven oder um eine letzte durchgescheuerte Leine zu spleißen.
Bolitho hörte und sah das alles. Und was er nicht sehen konnte, vermochte er sich leicht auszumalen. Wie all die Male zuvor spürte er Spannung, die ihm wie mit stählernem Griff das Herz zusammenpreßte, und die Furcht, doch noch irgend etwas übersehen zu haben.
Das Schiff hielt sich hervorragend. Inch hatte sich als ausgezeichneter Kommandant erwiesen, und Bolitho mochte es selbst nicht glauben, daß er ihm vor langer Zeit nicht mehr als das Leutnantspatent zugetraut hatte. Bolitho konnte es nicht verhindern, daß seine Gedanken abschweiften. Zu dem jungen Travers unten auf dem Batteriedeck, der nach ihrer Rückkehr Hochzeit halten wollte; jetzt wartete er wie alle seine Männer darauf, daß sich die Stückpforten in ihrem rot angestrichenen Höllenloch öffneten und die Kanonen zu brüllen begannen. Und Inch, der mit wehenden Rockschößen auf dem Achterdeck hin und her marschierte, während er
— den Hut mit kesser Schlagseite fest aufs Haupt gedrückt — mit seinem Ersten Offizier und dem Master plauderte. Inch hatte daheim in Weymouth eine Frau, Hanna, und zwei Kinder; was sollte aus ihnen werden, wenn er heute fiel? Warum bloß erfüllte es ihn mit Stolz und Freude, in ein Gefecht zu ziehen, das für sie alle das Ende bringen konnte?
Und dann Belinda. Unruhig ging Bolitho an den Finknetzen auf und ab, wobei er Stirling völlig vergaß, der sich wie ein Schatten dicht an seiner Seite hielt. Nein, an Belinda durfte er jetzt nicht denken.
Er hörte einen Mann leise sagen:»Da ist die alte Phalarope, Jim. Jeder Äppelkahn wäre mir lieber als sie!«Dann schien er Bolithos Nähe zu spüren und verstummte.
Bolitho starrte zu dem Schemen hinüber, der sich querab stampfend durch die Seen schob. Wie Odin fuhr auch sie ihre Rahen hart angebraßt, so daß die Segel eine hellere Pyramide bildeten, während der dunkle Rumpf noch mit dem Wasser verschmolz.
Zwei Schiffe und rund achthundert Offiziere, Matrosen und Soldaten, von einem einzigen Mann — ihm — in ein Gefecht auf Leben und Tod befohlen.
Bolitho blickte auf den Midshipman hinab.»Würden Sie lieber auf einer Fregatte fahren?»
Stirling dachte mit geschürzten Lippen darüber nach.»Lieber als anderswo, Sir.»
«Dann sollten Sie mal mit meinem Neffen sprechen, er. «Bo-litho brach ab, weil Stirlings Augen plötzlich aufleuchteten.
Erst jetzt folgte, scheinbar eine halbe Ewigkeit später, der dumpfe Donner einer fernen Detonation. Ein Lichtschein zuckte am Himmel auf, dann wurde alles wieder von den Geräuschen der See und des Windes verschluckt.
«Herrgott, was war das?«Inch stürmte heran, als sei Bolitho ihm eine Antwort schuldig.
Der sagte leise:»Die Sprengladung ist hochgegangen, Kapitän Inch.»
«Aber. «Inch starrte ihm in der Dunkelheit ins Gesicht.»Aber das war doch viel zu früh?»
Bolitho wandte sich ab. Ob nun zu früh oder zu spät, Browne mußte jedenfalls gute Gründe für die Zündung gehabt haben.
Bolitho merkte, daß Allday an ihn herantrat, und hob den Arm, damit er den Säbel an seinen Gürtel schnallen konnte.
«Der beste, den ich auftreiben konnte, Sir«, erläuterte Allday.»Nur um eine Kleinigkeit schwerer, als Sie es gewohnt sind. «Er deutete über Bord in die Dunkelheit.»War das Mr. Browne?»
«Ja. Er wußte vorher, daß er's schaffen würde. Leider Gottes gab es keinen anderen Weg.»
Allday seufzte.»Ihm war bekannt, worauf er sich einließ, Sir.»
Midshipman Stirling machte sich bemerkbar.»Es wird schon heller, Sir.»
Bolitho lächelte.»Das stimmt. «Dann wandte er dem Jungen den Rücken zu und sagte leise zu Allday:»Etwas muß ich dir unbedingt noch sagen…«Der Bootsführer zuckte zurück, als ahne er Bolithos Worte im voraus.»Falls — ich sage ausdrücklich >falls< — ich heute fallen sollte.»
«Schauen Sie, Sir. «Mit gespreizten Händen unterstrich Allday jedes Wort.»Alles, was ich gesagt oder getan habe, seit wir auf dieses Schiff gekommen sind, hat nichts mehr zu bedeuten. Wir werden es so gesund überstehen wie immer, glauben Sie mir, Sir.»
«Aber für den Fall«, beharrte Bolitho,»daß es anders kommt, mußt du mir versprechen, daß du nie mehr zur See fahren wirst. Man wird dich in Falmouth nicht entbehren können. Kümmere dich dort um alles. «Er ignorierte Alldays verzweifelten Protest.»Gib mir bitte dein Wort darauf.»
Allday nickte trübe.
Bolitho zog seinen neuen Säbel aus der Scheide und führte einen Probehieb durch die Luft. In der Nähe stehende Matrosen und Seesoldaten, die es beobachtet hatten, stießen einander an, und einer brach in Hochrufe aus.»Wir werden es den Schweinehunden schon zeigen, Sir!»
Bolitho ließ den Arm sinken.»Jetzt bin ich bereit, Allday«, sagte er.
Kapitän Inch legte die hohlen Hände um den Mund und rief:»Gehen Sie auf Steuerbordbug, Mr. Graham!»
«Achterdeckswache — an die Besanbrassen!»
Als Odin über Stag ging und sich dann wieder hoch am Wind der See entgegenwarf, stand Bolitho mitten im Gewühl und fühlte sich doch seltsam distanziert von allen.
Fröhlich meldete Inch:»Noch immer nichts zu sehen von den Franzosen, Sir!»
Bolitho blickte zu den angebraßten Rahen und den eisenharten Segeln hinauf, hinter denen der Himmel schon heller wurde.
«Die werden schon noch kommen. «Sein Blick fiel auf die Admiralsflagge, die — im grauen Licht noch farblos — steif vom Be-sanmasttopp auswehte.»Machen Sie eine zweite Flagge klar zum Heißen, Mr. Stirling«, befahl er und stellte fest, daß er tatsächlich zu Inch hinüberlächeln konnte.»Remond soll wissen, gegen wen er kämpft. Deshalb setzen Sie die Reserveflagge, wenn die erste weggeschossen werden sollte.»
Allday studierte Bolithos Gesicht und wunderte sich nicht zum erstenmal über sein Geschick, die Leute um ihn herum mit einem Blick, einem Wort in Begeisterung zu versetzen. Trotzdem überfiel ihn plötzlich bange Sorge, und er fragte sich, ob Bolitho für diese trotzige Geste nicht einen zu hohen Preis würde zahlen müssen.
Fahles Gold ließ die Hügelkämme der fernen Küste aufleuchten, und kurz danach rief Inch triumphierend:»Wir sind an dem französischen Geschwader vorbei, Sir!«Bolitho warf Allday einen Blick zu und lächelte. Von ihm wenigstens fühlte er sich verstan-deDn.ann sagte er:»Also gut, Kapitän Inch. Lassen Sie die Kanonen ausfahren, wenn Sie soweit sind.»
XVI Ein zerstobener Traum
Leutnant Searle stand auf der langen Leiter und spähte zu dem komplizierten Arrangement aus Flaschenzügen und Blöcken auf, das vom Dach herabhing. Offenbar gehörte es zu der Metallstruktur oben auf dem Turm, dem Semaphor. Er rief nach unten:»Kein Wunder, Oliver, daß sie für diese Arbeit Seeleute brauchen. Keine Landratte könnte diese Wulings jemals entwirren. «Er tätschelte die feuchten Mauersteine und verzog das Gesicht.»Wir brauchen eine mordsgroße Sprengladung, wenn wir den ganzen Turm umlegen wollen. «Browne starrte zu ihm hoch.»Den ganzen Turm?»
Searle winkte schon den einen seiner beiden Sprengmeister heran.»Hier hinauf, Jones! Aber ein bißchen schnell, Mann!«Zu Browne gewandt fuhr er fort:»Diese Kirche hat Mauern, so dick wie eine Festung. Was glauben Sie, wie lange die Franzosen brauchen würden, um neue Signalarme zu installieren?»