»Wow, eine Spitzenidee! Wäre doch toll, wir könnten das wirklich machen. Verdient hätte es die doofe Kuh!«
Ach so, das war bloß ein Witz! Dann bin ich beruhigt.
»Als ich das Mettbrötchen so knapp verfehlt hatte und dann kopfüber in dem Container hing, dachte ich, mein letztes Stündlein hätte geschlagen.« Karamell sieht noch immer ganz mitgenommen aus. Dabei ist das ganze Drama nun schon eine Weile her. Ich habe den Rückweg von der Theaterprobe, an der ich jetzt jeden Tag teilnehme, genutzt, um mal im Hof vorbeizuschauen. Dazu bin ich seit meiner unfreiwilligen Begegnung mit Gerd und Murat nicht mehr gekommen – was schade ist, denn natürlich war ich schon sehr neugierig, ob ich durch meine Heldentat ein paar Sympathiepunkte bei den Hofkatzen gesammelt habe.
Habe ich. Eindeutig. Ich war noch nicht ganz beim Unterstand angelangt, da kamen mir Odette und Karamell schon entgegen und sogar der alte Miesepeter Spike erhob sich zur Begrüßung von seinem Stammplatz. Und nun sitzen wir alle auf einem sonnigen Fleckchen vor dem Container und Karamell lobt und preist noch einmal meine Fähigkeiten als Super-Winston. Was für ein großartiger Tag! Karamell erzählt und erzählt und Odette und Spike reißen abwechselnd die Augen und die Schnauzen auf und staunen um die Wette. Gut, mir ist ein bisschen schleierhaft, wie Karamell die dramatischen Ereignisse überhaupt mitbekommen hat – immerhin war er ohnmächtig –, und so ganz stimmen seine Schilderungen auch nicht mit der Wirklichkeit überein. Schließlich wollten Gerd und Murat uns ja helfen und an den Teil der Geschichte, in dem ich zwei fiese Müllmänner attackiere und sie in die Flucht schlage und danach Karamell mit meinen eigenen Pfoten aus dem Müll ausgrabe, kann ich mich persönlich überhaupt nicht erinnern – aber egal. Es ist einfach schön, ein Held zu sein! Deshalb korrigiere ich Karamell auch nicht, sondern nicke nur huldvoll und murmle zum Schluss bescheiden: »Ach, das hättest du doch umgekehrt für mich auch getan.«
»Äh, hoffentlich. Ich meine, wir haben uns ja früher nicht so gut verstanden … äh …«
»Ach, Karamell«, sage ich betont gelassen und gebe ihm einen kleinen Stups in die Flanke, »das sind doch alte Geschichten. Die sollen nicht mehr zwischen uns stehen.« Dass ich genau das Gleiche dachte, als mich Odette gebeten hat, Karamell zu helfen, lasse ich mal lieber weg. »Ab jetzt gilt: Einer für alle, alle für einen!«
Die drei schauen andächtig.
»Ein toller Spruch«, meint Spike anerkennend. »Stammt der von dir?« Ich nicke. Odette schlägt ihren Schwanz hin und her, offenbar denkt sie nach.
»Irgendwo habe ich den schon mal gehört. Bist du sicher, dass der von dir ist?«
Mist. Ertappt. Natürlich könnte er von mir stammen. Genau genommen habe ich ihn aber aus einer Geschichte aufgeschnappt, die Werner mal den ungezogenen Kindern seines Bruders vorgelesen hat. Die Geschichte von den drei … äh … Moment, wie hießen die doch gleich? Mist, ich komme einfach nicht drauf.
»Also, der Spruch ist fast von mir. Es gibt da noch so eine Geschichte von drei Typen, die sind total schlau und stark und die treffen eines Tages auf einen andern Kerl, der ist auch schlau und stark. Erst zoffen sie sich, aber dann werden sie Freunde. Und dann gilt eben der Spruch Einer für alle, alle für einen.«
Spike reißt die Augen noch weiter auf als vorhin. »Donnerknispel! Das ist ja GENAU wie bei uns! Genau so! Wie heißt denn die Geschichte?«
Pling! In diesem Moment fällt es mir endlich ein.
»Die drei Muskeltiere. Es ist die Geschichte von den drei Muskeltieren. Klar, weil die Typen so stark sind. Sie ist schon sehr alt, aber immer noch sehr spannend.«
Karamell und Spike maunzen anerkennend über so viel Literaturverständnis meinerseits. Nur Odette guckt komischerweise leicht zweifelnd.
Dann holt Spike tief Luft und verkündet feierlich: »Gut. Dann sind wir ab heute die vier Muskeltiere. Einer für alle, alle für einen!«
Miiiiiaaauuuuuiiiiaaaaiiiimaunz-
maunzmaunz, miimiiimiiiiauauiauu!
Oder: Niemand singt so schön wie ich!
»Wo bleibt denn Emilia?« Frau Heinson sieht sich fragend um. »Weiß jemand, wo sie steckt? Du vielleicht, Leonie?« Aber Leonie zuckt nur mit den Schultern. Der fünfte Probentag ist angebrochen, alle Mädchen und Jungen der 7c haben sich vor der Bühne versammelt und eigentlich sollte nun der erste komplette Durchlauf des Gestiefelten Katers stattfinden. Noch nicht auswendig gespielt und gesungen, sondern vorgelesen, aber immerhin das ganze Musical einmal am Stück. Schließlich ist heute der letzte Tag der Projektwoche und der will gut genutzt sein. Ab nächstem Montag werden die Proben nur noch nachmittags stattfinden können. Alle sind also aufgeregt und warten darauf, dass es endlich losgeht mit dem Gestiefelten Kater – aber es fehlt: der Gestiefelte Kater. Beziehungsweise Emilia.
»Mann, das gibt’s doch nicht – die blöde Kuh!«, regt sich Ben, der Müllersohn, auf. »Ohne Bescheid zu sagen! Jetzt stehen wir hier und warten. Was denkt die sich eigentlich? Voll daneben!«
»Sie muss krank geworden sein. Komisch nur, dass ihre Eltern noch nicht im Sekretariat angerufen haben«, wundert sich Frau Heinson. »Was machen wir denn jetzt bloß?«
Auch Fernandez schaut zunächst etwas ratlos, dann bleibt sein Blick an Pauli hängen, die erste Entwürfe ihrer Kostüme über dem Arm trägt.
»Pauli, hast du schon etwas für uns fertig?«
Sie nickt. »Ja, ich habe die letzten vier Tage mit Frau Eichstätt im Werkraum an der Nähmaschine gesessen. Wir haben schon mal ein paar grobe Entwürfe zusammengeheftet. Ich wollte heute mit dem Anprobieren beginnen. Frau Eichstätt schaut nachher vorbei, um mir zu helfen.«
»Frau Eichstätt?« Herr Fernandez hat den Namen offenbar noch nie gehört. Kein Wunder, ich auch nicht.
»Das ist die Kunstlehrerin. Sie ist aber auch sehr fit im Bereich Handarbeit«, erklärt Frau Heinson.
»Ach so. Na, dann würde ich sagen, wir schauen uns mal an, was unsere junge Gewandmeisterin hier schon geschafft hat«, beschließt Fernandez, »vielleicht kommt unser Kater ja, bis wir damit fertig sind.« Kater? Maunz! Hier bin ich doch! Fernandez lacht, bückt sich und streicht mir über den Kopf. »Dich sehe ich doch, Winston. Aber leider kannst du nicht singen, sonst würde ich dich sofort in ein Paar Stiefel stecken.« Leider? Ich würde sagen: Dem Katzengott sei Dank!
Pauli legt die Kostümentwürfe auf einen Tisch, der neben der Bühne steht. »Okay, dann gebe ich am besten allen, für die ich schon etwas gemacht habe, ihren Entwurf zum Anprobieren. Ich hole in der Zwischenzeit Frau Eichstätt. Wenn ihr die Sachen angezogen habt, kommt bitte wieder zu mir, damit wir sehen, ob das schon in die richtige Richtung geht.« Schnurr! Pauli klingt so entschieden, als ob sie ihr ganzes Leben schon nichts anderes als Kostümbildnerin am Theater gewesen sei. Ich bin beeindruckt!
»Also, wenn ihr hier erst noch über die Kostüme sprecht, könnte ich doch so lange in den Werkraum gehen und mit June und Smilla weiter am Entwurf für unser Bühnenbild basteln, oder?« Tom ist tatsächlich dabei, aus Sperrholz ein Bühnenmodell für unser Theaterstück zu bauen. Er hat es mir schon einmal kurz gezeigt – sah ein bisschen aus wie das Puppenhaus, das Werner einer seiner Nichten zu Weihnachten geschenkt hat.
Frau Heinson nickt. »Ja, macht ruhig, ich hole euch, wenn es hier weitergeht.«
Gut gelaunt pfeifend zieht Tom ab, die Projektwoche scheint ihm ziemlich viel Spaß zu machen.
Wer hingegen gerade äußerst schlecht gelaunt wirkt und offenbar versucht, sich unsichtbar zu machen, ist Kira. Seltsam, dabei könnte das doch heute ihre Chance sein! Sie hat nämlich in den letzten Tagen wirklich zu Hause Emilias Text geübt. Während ich den Vorschlag von Tom zunächst für einen Scherz gehalten habe – was er mit Sicherheit auch war –, hat Kira daraus Ernst gemacht. Ich würde sagen, den Gestiefelten Kater hat sie mittlerweile drauf! Dabei hat sie sogar am Klavier die Lieder gespielt und gesungen, die im Stück der Kater maunzt. Klang gar nicht mal so schlecht. Also, für menschliche Verhältnisse.