Ich streiche Kira um die Beine und versuche, sie dadurch aufzumuntern. Funktioniert nicht. Traurig lehnt sie an dem Tisch, auf dem Pauli gerade den Haufen mit den Kostümentwürfen abgelegt hat, und reagiert nicht auf mich. Was hat sie bloß? Vielleicht sollte ich sie mal daran erinnern, dass sie ihren besten Freund dabeihat und sich also keine Sorgen über irgendetwas machen muss. Kurz bevor wir nach unserem letzten Abenteuer wieder unsere Körper zurückgetauscht haben, haben wir nämlich ein geheimes Zeichen verabredet, mit dem wir uns jederzeit gegenseitig an unsere Freundschaft erinnern können. Falls das mal nötig sein sollte. Und jetzt scheint es mir nötig. Ich nehme also Anlauf, hüpfe auf den Tisch und von dort auf ihre Schultern.
Erschrocken zuckt sie zusammen. »Hey, Winston, was soll das?« Sie fängt an, sich zu schütteln. Nix da – mich wirst du nicht so schnell los! Ich kralle mich in den Stoff ihres T-Shirts, strecke meinen Kopf neben ihren und schlecke einmal blitzschnell links und rechts ihre Ohren ab. Kira hält kurz inne, dann greift sie nach oben, pflückt mich von ihren Schultern und nimmt mich in den Arm.
»Du hast recht, Winston: Beste Freunde für immer! Finde ich lieb, dass du mich ausgerechnet jetzt daran erinnerst. Hast du gemerkt, dass ich nicht so gut drauf bin?«
Ich beginne zu schnurren.
Kira seufzt. »Ach, ich weiß auch nicht. Eigentlich fühle ich mich ja mittlerweile total wohl an meiner neuen Schule. Ich habe mit Tom und Pauli zwei richtig gute Freunde gefunden und Leonie, die Zicke, lässt mich meistens in Ruhe. Aber trotzdem … manchmal wäre ich lieber wieder in meiner alten Klasse. Da hätte jeder gewusst, dass ich wirklich gut singen kann, und ich hätte mich gar nicht groß um eine Hauptrolle bewerben müssen. Man hätte mich gefragt – ganz sicher! Aber hier: Fehlanzeige.«
Maunz! Am liebsten würde ich ihr jetzt sagen: Dann müssen die Leute dich eben kennenlernen! Aber dazu musst du ihnen auch die Gelegenheit geben und die kommt sicherlich nicht, wenn du hier weiter am Tisch klebst und Trübsal bläst. Los, geh zu Frau Heinson und sag ihr, dass du für Emilia einspringen kannst, wenn die nicht aufkreuzt!
Aber leider kann Kira meine Gedanken nicht mehr lesen und deswegen klingt mein toller Ratschlag für sie nur wie Schnurr, schnurr, schnurr, miau, miau! Grrrr, so ein Mist!
»Weißt du, ich freue mich natürlich für Pauli, dass ihr diese Kostümgeschichte so viel Spaß macht. Aber ich komme mir gerade total überflüssig vor. Ich kann nicht einmal etwas anprobieren, die Kostüme für den Chor sind noch nicht fertig. Und ich kann auch nicht sofort zu diesem blöden Fernandez rennen und ihm sagen, dass ich heimlich die Rolle des Katers geübt habe. Der hält mich doch für total irre – und die anderen halten mich für eine Streberin. Selbst Tom wäre wahrscheinlich fassungslos, wenn er wüsste, dass ich seine Quatsch-Idee in die Tat umgesetzt habe. Das kann ich hier also keinem erzählen.«
Doch, genau das sollst du aber machen, Kira! Ich strecke mich ein Stück in die Höhe, um in ihr Gesicht schauen zu können. Vielleicht kann sie es in meinen Augen lesen?
Tatsächlich zieht sie mich noch ein bisschen näher an sich heran. »Ich finde es toll, dass du so zu mir hältst. Du weißt genau, wie ich mich fühle, nicht wahr? Dir geht es doch mit den Hofkatzen nicht anders. Da möchtest du dich sicher auch ab und zu einfach auf unserem schönen Sofa zusammenrollen und von der bösen Welt da draußen nichts wissen, oder? Und das mache ich jetzt auch – ich glaube, ich verziehe mich jetzt still und heimlich in die Cafeteria und hole mir ein Brötchen. Mich vermisst hier sowieso keiner.«
Grrr, das ist ja zum Schnurrhaareausreißen! Wieso versteht das Kind mich nicht? Was soll ich denn noch machen, damit sie weiß, was ich meine? Soll ich etwa singen? Unmöglich. Kann ich nicht.
»Komm, Winston. Wir hauen ab.« Kira steht vom Tisch auf und dreht sich Richtung Ausgang. Also gut. Vielleicht kann ich doch.
»Miauiauuuuuiaauu! Maauuuuunzzz! Miaumaunz! Miiiiiauuu!« Okay, es reicht wahrscheinlich nicht für dieses Fernsehdings namens Deutschland sucht den Superstar, aber ich finde, es geht schon in die richtige Richtung. »Miiiauuuuumiiii…«
»Winston!« Kira klingt geschockt. »Was ist mir dir? Hast du Schmerzen?« Sie setzt mich ganz behutsam auf die Tischplatte und streichelt mir zärtlich über den Rücken. »Du Armer, das klingt ja furchtbar!«
Furchtbar? Frechheit! Das war eindeutig Gesang und so viel schlimmer als dieses Menschengeheul wird es auch nicht gewesen sein. Beleidigt drehe ich Kira mein Hinterteil zu. Soll sie doch sehen, wie sie hier klarkommt. Pffff!
Ich will gerade vom Tisch runterhüpfen, da greift Kira nach mir. »Hey, hiergeblieben! Was ist denn bloß los mit dir? Tut dir gar nichts weh? Aber was willst du mir dann sagen?«
Also gut. Auf ein Neues! Aber wenn sie es dann nicht kapiert, lasse ich es. Ich mache mich hier doch nicht zum Deppen!
»Maaaauuuuunzzzzmiauuuiiiiauuuuiaaaamaunzmaunz«, lege ich los und finde, diese Melodie ist mir besonders gut gelungen. Vorsichtshalber schiebe ich aber noch ein doppeltes »Miiiimiiiiiimiiiii!« hinterher.
Kira macht große Augen. »Sag mal, versuchst du etwa zu singen?«
Was heißt denn hier: versuchen? Ich singe!
Jetzt beginnt Kira zu lächeln. Sie scheint endlich zu begreifen!
»Mensch, Winston! Willst du etwa, dass ich singe? Du willst, dass ich zu Heinson und Fernandez gehe und vorsinge?«
Schnurr, schnurr, SCHNURR! Hundert Punkte!
Kira legt den Kopf schief.
»Das willst du also wirklich. Hm. Aber ich habe dir doch schon erklärt, warum ich das nicht so gut finde. Ich weiß nicht, ich denke irgendwie, dass …« FAUCH! Wieso will Kira nicht auf mich hören? Ich bin mir sicher, dass das eine tolle Chance für sie ist! Manchmal muss man sich eben trauen und – jetzt mal einfach so als Vergleich – in die Mülltonne springen. Obwohl man nicht weiß, was einen dort erwartet. Ich werfe mich in Positur und schaue Kira herausfordernd an.
Sie seufzt. »Also gut. Wenn Emilia noch nicht da ist, sobald die anderen mit dem Anprobieren fertig sind, dann sage ich Frau Heinson, dass ich einspringen könnte.«
Gutes Mädchen, braves Kind!
Herr Fernandez klatscht in die Hände. »Kinder, kommt mal alle nach vorn zur Bühne! Wir haben gerade Emilias Eltern erreicht. Genauer gesagt hat Herr Salemke, unser Pianist, mit ihnen telefoniert.«
Der junge, dünne Mann, der eben noch am Klavier gelehnt hat, räuspert sich und stellt sich gerade hin. »Ja, Emilia ist leider tatsächlich krank und kommt heute nicht. Schade, gestern war sie noch putzmunter und wir haben auch schon ein paar Lieder gemeinsam einstudiert.«
Aha! Das muss also der Klavierlehrer von Emilia sein, von dem schon die Rede war. Klar, jetzt fällt mir auch wieder ein, dass er in den letzten Tagen hier öfter dabei war. Er hat den Chor und die Kinder begleitet, wenn Frau Heinson einzelne Lieder für das Stück geübt hat.
Fernandez guckt betrübt und seufzt. »So ein Mist! Aber wir beginnen trotzdem mit der Leseprobe und ich werde ihre Rolle von hier unten einlesen. Singen kann ich natürlich nicht. Das ist jetzt zwar doof, aber eine andere Möglichkeit gibt es wohl nicht. Alle anderen begeben sich bitte auf die besprochenen Positionen. Leonie, du kommst zu mir. Es ist wichtig, dass die Regie alles gut im Blick hat.«