Allgemeines Gewusel, die Kinder verteilen sich auf der Bühne oder im Hintergrund. Pauli steckt noch ein paar Kostümentwürfe ab, Tom, der mittlerweile wieder da ist, geht zum Technikpult, mit dem das Licht bedient wird. Nur Kira rührt sich immer noch nicht vom Fleck. Ich streiche an ihren Beinen vorbei – und fahre dabei einmal kurz mit meinen Krallen über ihr linkes Hosenbein.
»Aua, Winston! Ist ja gut – ich mach ja schon!«
Jetzt hebt Kira zögerlich die Hand. Fernandez schaut zu ihr hinüber und nickt ihr freundlich zu. »Ja, bitte?«
»Ich könnte Emilia erst mal vertreten. Ich … äh … ich habe die Rolle auch ein bisschen gelernt.«
Erstaunt zieht Fernandez die Augenbrauen nach oben. »Oh, hast du?«
Kira scheint ganz heiß zu werden, jedenfalls strahlt sie auf einmal eine ungewöhnliche Wärme aus.
»Ja«, stottert sie, »ich, äh, habe mich doch auch für die Rolle interessiert und da habe ich ein wenig geübt. So aus Spaß … äh …« Es wird immer wärmer neben Kira. Ich bekomme spontan ein sehr schlechtes Gewissen. Offenbar ist ihr die Sache furchtbar unangenehm und ich Trottel habe sie dazu gezwungen!
Leonie beginnt zu kichern. »Du hast ihre Rolle gelernt? Wie peinlich ist das denn? Ist dir etwa langweilig? Ich habe dir doch gesagt, dass du die Rolle nicht kriegst!« Auch ein paar andere Kinder fangen an zu lachen.
Ich verfluche mich für meine saublöde Idee – ich sollte mich aus diesem Menschenkrams in Zukunft einfach raushalten!
»Ich verstehe eure Heiterkeit nicht ganz«, wendet sich Fernandez jetzt an die Kinder. »Bei großen Produktionen ist ein sogenannter Understudy völlig üblich.«
»Understudy?«, echoen die Kinder.
»Ja, Understudy. Die zweite Besetzung. Richtige Musicals sind meist sehr aufwendig und teuer. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn man dann eine Vorstellung wegen Krankheit eines Hauptdarstellers absagen müsste. Also gibt es den Understudy, der die Rolle auch spielen kann und notfalls einspringt. Sehr bekannte Schauspieler und Sänger haben so angefangen. Shirley MacLaine zum Beispiel. Sie ist eine berühmte amerikanische Schauspielerin, hat sogar schon mal den Oscar gewonnen. Jedenfalls hat sie ihre Karriere der Tatsache zu verdanken, dass sie als Understudy für eine bekannte Schauspielerin eingesprungen ist und dabei entdeckt wurde. Also, Kira MacLaine – rauf auf die Bühne mit dir!«
Leonie guckt Kira sehr böse an, sagt aber nichts mehr. Herr Salemke setzt sich ans Klavier und stimmt die Takte des ersten Liedes vom »Gestiefelten Kater« an. Kira zögert kurz – aber dann legt sie los, als habe sie nie etwas anderes getan. Ihre Stimme ist klar und voll – und tut mir auf einmal auch nicht mehr in den Ohren weh. Wie durch ein Wunder verwandelt sich die eher nüchterne Atmosphäre der Schulaula in ein echtes Theater. Wahnsinn! Meine Kira hat es wirklich drauf.
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie erstaunt die anderen Kinder gucken. Die beiden Mädchen direkt neben mir stecken die Köpfe zusammen und beginnen zu flüstern.
»Wow, die singt ja richtig toll!«
Das andere Mädchen nickt. »Ja, vielleicht sollten wir froh sein, wenn Emilia länger krank ist.«
Nett ist das nicht – aber die beiden haben vollkommen recht! Ich vermisse Emilia jedenfalls nicht. Jetzt muss nur noch die fiese Leonie ausfallen. Die Regie übernehme ich dann. Menschen rumscheuchen – das liegt mir als Kater bestimmt!
Meine Schwanzspitze juckt.
Und die irrt sich nie!
Von außen sieht das Haus ziemlich beeindruckend aus. Die Eingangstür liegt unter einem großen Bogen, der in zwei Säulen links und rechts mündet. Die Säulen sind oben mit Ranken und Blumen verziert, die golden glänzen. Neben dem Türbogen gibt es noch einen zweiten Bogen, der ein sehr großes Fenster umfasst – durch dieses hat man bestimmt einen sehr guten Ausblick auf das Geschehen vor dem Haus.
Das Haus sieht ganz anders aus als das, in dem ich mit Werner wohne – also insgesamt groß mit vielen Wohnungen darin. Es ist ein einzelnes Haus, etwas kleiner als unseres, aber immer noch groß und offensichtlich nur von einer Familie bewohnt. Jedenfalls sehe ich auf den ersten Blick nur ein Schild. Mit anderen Worten: Tom, Pauli, Kira und ich stehen vor einer richtigen Villa. Ich bin beeindruckt: Hier wohnt Emilia mit ihren Eltern? Im Fernsehen gehören solche Häuser immer den RICHTIG reichen Leuten!
Pauli stupst Tom in die Seite. »Los, nun mach schon! Oder traust du dich nicht?«
»Quatsch, natürlich trau ich mich. Meinst du, der Kasten hier schreckt mich ab?«
Pauli zuckt mit den Schultern. »Könnte doch sein.«
Tom lacht und schüttelt den Kopf. »Nee, das Haus muss erst gebaut werden, bei dem ich mich nicht traue, auf die Klingel zu drücken.«
»Okay, Mister Supercool. Dann können Kira und ich ja wieder gehen und du gibst das Kostüm alleine ab. Komm, Kira.« Pauli zupft ihre Freundin am Ärmel.
»Halt, hiergeblieben!«, ruft Tom. »Ihr seid schließlich mitgekommen, weil ihr mir die Geschichte mit dem Klassenbuddy eingebrockt habt. Sonst müsste jetzt Kira Emilia das Kostüm und den geänderten Text vorbeibringen.«
Da hat Tom natürlich recht. Und deswegen haben sich die Mädchen ihm auch gleich angeschlossen, als Frau Heinson Tom als Klassenbuddy beauftragt hat, Emilia die Sachen vorbeizubringen. Ich glaube, einen Moment hatte Tom gehofft, Leonie würde ihm die Sache abnehmen – aber daraus wurde nichts, weil die olle Ziege noch zum Kieferorthopäden musste. Pech gehabt!
Tom streckt die Hand aus und klingelt. Kurz darauf bewegen sich die Gardinen hinter dem Bogenfenster, dann hören meine Superkater-Ohren auch schon Schritte. Die Tür wird langsam geöffnet. Durch den entstehenden Spalt blickt das sehr blasse Gesicht einer Frau.
»Ja, hallo?« Ihre Stimme klingt sehr unsicher und zittrig, fast, als hätte sie gerade noch geweint. Komisch, was ist denn mit der los?
»Hallo, wir sind Klassenkameraden von Emilia. Sind Sie Frau Stetten?« Die Frau nickt stumm. Aha, das ist also Emilias Mutter.
»Guten Tag! Ich bin Tom Lauterbach und das sind Kira Kovalenko und Paula Seifert. Wir haben Emilia ein paar Sachen aus der Probe mitgebracht, die sie heute verpasst hat.«
Frau Stetten zögert kurz, dann öffnet sie die Tür.
»Danke, das ist nett. Ihr könnt sie da vorn auf die Kommode legen.« Sie gibt den Weg in einen großen hellen Flur frei. Na ja, eigentlich ist es eher eine Eingangshalle als ein Flur, mit unglaublich hohen Decken und vielen Türen. An einer Seite befindet sich eine Ausbuchtung, in der eine Statue steht – eine Frau aus Stein, die einen Korb oder eine Art Vase auf der Schulter trägt. Maunz – wo sind wir hier gelandet?
»Ähm, ein paar Sachen müssten wir Emilia noch erklären«, mischt sich Kira ein. »Wegen der Änderungen im Text. Können wir kurz zu ihr?«
Frau Stetten zuckt so stark zusammen, als hätte ihr Kira einen Schlag verpasst. Dann schüttelt sie heftig den Kopf. »Äh, nein! Das ist ganz und gar unmöglich. Unmöglich! Ihr könnt nicht zu ihr! Sie ist … äh … sehr, sehr krank!«
Die Kinder machen große Augen.
»Oh, ’tschuldigung«, stottert Pauli schließlich, »das wussten wir nicht.«
Tom geht zur Kommode und legt sowohl den Kostümentwurf als auch das Manuskript ab. Dann wendet er sich an Frau Stetten. »Tut uns leid, dass wir gestört haben. Wir wünschen Emilia natürlich gute Besserung. Grüßen Sie sie bitte von uns.«
Bei Toms letztem Satz schnappt Frau Stetten so scharf nach Luft, als würde sie mit den Tränen kämpfen. Sehr komisch. Sehr, sehr komisch!
Ich merke, wie meine Schwanzspitze anfängt zu jucken. Das ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt. Und meine Schwanzspitze täuscht mich nie! Irgendetwas ist hier ganz gewaltig faul! Nur – was?
Frau Stetten schluckt noch einmal trocken, dann hat sie ihre Sprache wiedergefunden. »Also, habt vielen Dank für die Sachen, Kinder. Ich denke, ihr braucht erst einmal nicht wiederkommen. Wenn es Emilia besser geht, rufen wir an.« Mit diesen Worten schiebt sie uns aus der Haustür und schließt diese sofort.