Ich maunze also noch lauter, jammere regelrecht und kratze weiter an der Tür.
»Musst du mal auf dein Katzenklo?«
Schlaues Kind! Los, nun mach schon die Tür auf! Tatsächlich rappelt sich Kira von ihrem Bett hoch und kommt zu mir. Sie öffnet die Tür einen Spalt und lugt vorsichtig auf den Flur. »Okay, die Luft ist rein! Aber sei bloß vorsichtig!«
Klaro! Ich sause los. Die Küchentür ist nur angelehnt, ich bremse und horche kurz – die Küche scheint leer zu sein. Ausgezeichnet! Schnell schiebe ich mich durch den Türspalt, hüpfe auf die mittlerweile blitzblank gewischte Arbeitsplatte und stürze mich auf den Zettelkasten. Irgendetwas klappert auf dem Flur, vielleicht die Wohnzimmertür? Ich zucke zusammen und ducke mich hinter den Kasten, was im Grunde genommen Quatsch ist, da ich deutlich größer bin.
Schritte kommen näher, mein Herz fängt an zu rasen. Wenn mich Anna oder Babuschka noch mal in der Küche erwischen, komme ich bestimmt ins Tierheim. Dann kann mich nicht mal mehr Werner retten!
Aber die Schritte gehen an der Küche vorbei, offenbar zum Gästebad. Puh, das war knapp! Ich fische den Erpresserbrief aus dem Kasten, springe auf den Boden und sprinte wieder in Kiras Zimmer. Dort angekommen, lege ich den Zettel mitten auf ihren Flauschteppich. So! Hier kann sie ihn nicht mehr übersehen. Ich setze mich daneben und maunze laut. Schau her, Kind!
Tatsächlich steht Kira auf und kommt zu mir. Schnell deute ich mit meiner Vorderpfote auf den Zettel. Nicht dass sie ihn wieder wegschmeißt!
»Hey, willst du mir etwas zeigen?« Sie bückt sich und hebt den Zettel auf. Dann beginnt sie zu lesen.
»Was ist Euch Euer Töchterlein wert? Ich erhöhe den Preis: 2 Millionen Euro Lösegeld. Und keine Polizei. Das war meine Bedingung – aber Ihr habt Euch nicht daran gehalten. Ich habe die Bullen gesehen. Schluss damit! Sonst seht Ihr Emilia nicht wieder. Das ist kein Spiel!!!«
Kira schnappt nach Luft. »Winston – woher hast du das? Das ist ein Erpresserbrief!«
Sie lässt den Brief sinken. Ich versuche, mit meiner Pfote auf den Namen Emilia zu zeigen. Klappt nicht wirklich, Kira hebt hilflos die Hände. Sie versteht nicht, was ich ihr zeigen will. Mist! Es wäre alles viel leichter, wenn Kira noch meine Gedanken lesen könnte. Immerhin kommt sie nun auf die Idee, den Zettel wieder auf den Teppich zu legen. Ich zeige mit meiner Pfote auf den Namen Emilia.
»Kannst du etwa noch lesen, Winston?«
Ich miaue laut und hoffentlich verständlich ein Ja.
»Du zeigst auf Emilia, oder? Du hast den Zettel von Emilia? Also ist es wahr? Emilia ist entführt worden?«
Miau, miau, MIAU!
»Aber das ist ja furchtbar! Deswegen war sie nicht mehr bei der Probe! Wie bist du bloß an diesen Zettel rangekommen? Hast du den mitgenommen, als wir in Emilias Haus waren?«
Ich überlege kurz, wie gut ich Kira wohl die ganze Geschichte von meinem Abenteuerausflug mit Odette, Spike und Karamell mit Gebärdensprache erklären kann. Völlig klar: Nicht so richtig gut. Also miaue ich einfach. Ist doch letztlich auch egal, wie und wann genau ich an den Zettel gekommen bin.
Kira schlägt die Hand vor den Mund. »Also ist es wahr! Der Zettel stammt wirklich aus Emilias Haus! Ich muss sofort Tom und Pauli Bescheid sagen!« Sie holt ihr Handy aus der Schultasche, die neben ihrem Schreibtisch lehnt, dann wählt sie.
»Hallo, Tom? Hier Kira! Ich habe etwas Schlimmes über Emilia herausgefunden. Sie ist gar nicht krank. Sie wurde entführt.« Tom scheint etwas zu sagen, jedenfalls horcht Kira in ihr Handy. »Doch, doch, ich bin mir ganz sicher. Winston hat mir gerade den Brief des Entführers gezeigt.« Ich kann hören, dass Tom etwas brabbelt. Oder lacht er sogar? »Tom«, erwidert Kira nun vorwurfsvoll, »das ist kein Spaß! Und du weißt genau, wie schlau Winston ist. Die Lage ist ernst! Wir müssen uns treffen – rufst du Pauli an und kommst dann mit ihr zu mir?« Sie hört sich Toms Antwort an. Es scheint ein Problem zu geben, jedenfalls verzieht Kira das Gesicht. »Ja, ich weiß, dass tolles Wetter ist. Eisdiele geht trotzdem nicht. Ich kann hier nicht weg. Ihr müsst zu mir. Ich … äh … ich kann momentan mein Zimmer nicht verlassen.«
Das scheint Tom erklärungsbedürftig zu finden, jedenfalls holt Kira Luft und schickt dann noch ein paar Sätze hinterher. »Ich habe gerade totalen Stress mit meiner Mutter. Sie sagt, ich darf erst raus, wenn ich mich bei ihr entschuldigt habe. Aber das mache ich auf keinen Fall, und wenn ich hier drei Jahre sitzen bleibe. Denn ich bin gar nicht schuld.«
Wieder Gebrabbel.
»Okay, dann ruf mich an, wenn du Pauli erreicht hast. Tschüss, Tom!« Sie beendet den Anruf, legt ihr Handy auf ihren kleinen Schreibtisch und setzt sich wieder aufs Bett. Ich springe zu ihr hoch, um ein paar Streicheleinheiten abzugreifen. Funktioniert immer!
»Mann, Winston, was machen wir denn nun? Und gerade jetzt sitze ich hier fest – das ist doch wirklich ätzend! Oder soll ich mich doch entschuldigen?« Sie seufzt. »Aber eigentlich will ich das nicht.«
Es klopft an der Tür.
»Ja?«
»Kira, ich bin’s, Werner. Darf ich reinkommen?«
Kira zögert, ruft dann aber: »Von mir aus. Kommen Sie rein.«
Die Tür öffnet sich und Werner steht im Zimmer. Er schaut etwas verlegen, dann zieht er den Schreibtischstuhl Richtung Bett und setzt sich zu uns.
»Was gibt’s?« Kira klingt ziemlich trotzig und Werner seufzt.
»Weißt du, ich fühle mich natürlich ziemlich schlecht, weil mein ungezogener Kater so einen Schlamassel verursacht hat.« Was? Meint der etwa mich? Der ist doch mein Herrchen, der kann mir doch nicht einfach so in den Rücken fallen!
Kira sagt nichts, sondern zieht einen Flunsch.
Davon lässt sich Werner allerdings nicht beirren. »Tja, und weil das so ist, würde ich mich gern als Friedensstifter betätigen«, fährt er fort. »Deine Mutter ist nämlich gerade ungefähr genauso unglücklich wie du. Wenn aber zwei von zwei meiner Mitbewohnerinnen so traurig sind, mit anderen Worten: hundert Prozent –, dann gefällt mir das natürlich gar nicht. Also – was kann ich tun?«
Schweigen. Dann zuckt Kira mit den Schultern. »Weiß nicht. Nichts, glaube ich.«
»Na, ich könnte quasi Parlamentär sein.«
Jetzt macht Kira große Augen und ich gleich mit. Parlawas?
»Was ’n das?«, will Kira wissen.
Werner grinst. »Ein Parlamentär ist ein Unterhändler zwischen Ländern oder Menschen, die gegeneinander Krieg führen. Er vermittelt also zwischen Leuten, die am liebsten aufeinander schießen würden. Und das kommt mir bei euch beiden gerade so vor.«
Menschen, die Krieg führen – klingt ein bisschen übertrieben, aber leider nur ein bisschen. Vielleicht wäre es wirklich nicht schlecht, wenn Werner zwischen Anna und Kira vermitteln würde. Sonst sitzen wir nächste Woche immer noch hier und Kira kann uns Muskeltieren nicht dabei helfen, Emilia zu befreien. Und dass Odette und ich das nur mit Unterstützung von Spike und Karamell schaffen, wage ich zu bezweifeln! Also, Werner, lass hören!
»Ich bin ja verglichen mit dir schon steinalt«, meint Werner, »aber trotzdem kann mich meine Mutter richtig nerven. Etwa, wenn sie stundenlang über die schlechte Zeit nach dem Krieg erzählt und wie gut ich es immer hatte. Oder wenn sie mir heute noch einschärft, mich gut zu benehmen, wenn ihre Bridge-Damen kommen. Da kann man nichts machen – Mütter sind eben so. In deinem Alter habe ich mich darüber noch tierisch aufgeregt und versucht, sie zu ändern. Zwecklos. Du kannst einen Menschen nicht ändern. Schon gar nicht deine Mutter.«
Werner lächelt schief, Kira sieht noch nicht sonderlich überzeugt aus. Er unternimmt einen neuen Anlauf.
»Versuche, dir selbst zu sagen, dass sie es nicht macht, obwohl sie dich liebt – sondern weil sie dich liebt.«