»Von einem Verbrecher?«, rufen Lotti und Finn wie aus einem Mund.
Kira nickt. »Ja. Von einem Verbrecher. Ist ja nicht eure Schuld, aber so wie es aussieht, habt ihr einen Erpresserbrief transportiert.«
Die Kinder sagen nichts mehr, sondern starren Kira nur noch ängstlich an. Dann knufft Finn Lotti in die Seite.
»Komm, lass uns abhauen!«
»Stopp!«, ruft Kira. »So geht das nicht – ihr seid wichtige Zeugen. Ich brauche eure Namen und Telefonnummern, falls ich noch eine Frage habe. Außerdem möchte ich, dass ihr mir noch einmal ganz genau erzählt, wie das mit der Frau war. Jedes Detail ist wichtig!«
Heilige Ölsardine! Kira klingt so bestimmt und professionell, dass man glauben könnte, sie sei selbst Polizistin. Ich bin schwer beeindruckt und sehe aus den Augenwinkeln, dass es Odette genauso geht: Sie starrt Kira völlig fasziniert an. Finn und Lotti scheinen noch etwas unschlüssig, aber dann nickt Lotti.
»Okay, du hast recht. Wenn es nicht so lange dauert, kommen wir mit und erzählen es dir noch mal in Ruhe. Aber wenn wir in einer halben Stunde nicht zu Hause sind, kriegen wir echt Ärger!«
Kira seufzt. »Ich weiß genau, was du meinst. Fürchte, ich habe gerade das gleiche Problem. Wenn meine Mama und Oma gleich nach Hause kommen und merken, dass ich nicht da bin, ist garantiert die Hölle los. Aber das kann ich jetzt nicht ändern – ich muss jetzt erst mal jemanden retten!«
Meine Kira! Wenn es darum geht, anderen zu helfen, ist ihr selbst Ärger mit Babuschka egal. Gerade in diesem Moment bin ich ziemlich stolz auf meine mutige, schlaue Freundin.
Die beiden Kinder trotten hinter Kira her. Wir sind noch nicht ganz beim Haus angelangt, da kommt uns Tom schon entgegen und winkt aufgeregt.
»Es ist tatsächlich wieder ein Brief vom Entführer! Er meint es ernst, Frau Stetten ist völlig fertig! Emilia ist in großer Gefahr!«
Kommando »Rettet Emilia«.
Ohne James Bond. Aber mit Winston. Agent auf leisen Pfoten.
Eure letzte Chance! Montag, 16 Uhr. Schrottplatz Alte Werder Straße. Neben dem Kranhäuschen steht ein alter blauer Golf III. Tüte mit Geld in den Fußraum des Beifahrersitzes. Wenn es klappt, ist Emilia Dienstagmittag wieder da. Sonst … aber das wisst Ihr wohl selbst.
Mein Gefühl hat mich also nicht getäuscht: Im Umschlag steckte ein Erpresserbrief. Jetzt liegt er auf dem kleinen Sofatisch und sieht genau so aus wie sein Vorgänger: ein weißes Blatt, der Text aufgeklebt aus lauter ausgeschnittenen Buchstaben. So richtig freuen kann ich mich über meinen guten Riecher allerdings nicht, denn die Stimmung ist gerade am Boden. Frau Stetten weint, Tom, Pauli und Kira gucken ganz betreten.
»Mein armes Kind!«, schluchzt Emilias Mutter verzweifelt. »Ich muss sofort meinen Mann anrufen! Vielen Dank für eure Unterstützung, aber ich kann momentan gar keinen Schlachtplan mit euch entwerfen, so durcheinander bin ich. Ich brauche jetzt ein bisschen Ruhe – tut mir leid, dass ihr extra gekommen seid!«
Kira räuspert sich. »Keine Sorge, das verstehen wir. Ist ja auch schon ziemlich spät. Hier, auf diesem Zettel habe ich Ihnen die Adressen und Telefonnummern der beiden Kinder notiert, die den Entführer gesehen haben. Beziehungsweise: die Entführerin!« Sie reicht Frau Stetten ein Stück Papier. »Und wenn uns noch etwas auffällt oder wir etwas herausfinden, das weiterhelfen könnte, melden wir uns gleich.«
»Danke, Kira. Ich bin froh, dass Emilia so gute Freunde hat!« Frau Stetten versucht, sich ein Lächeln abzuringen. Pah, wenn die wüsste, dass Kira, Pauli und Tom gar keine Freunde der doofen Emilia sind! Aber vermutlich ist das gerade nicht der richtige Zeitpunkt, um dieses Missverständnis aufzuklären.
Draußen auf der Straße zieht Kira ihr Handy aus der Hosentasche und wirft einen Blick drauf. »Hm, schon fast neun. Wenn ich noch verhindern will, dass mein kleiner Ausflug auffällt, muss ich jetzt los.«
Tom nickt. »Ja, ich eigentlich auch. Aber noch eigentlicher müssen wir uns ganz dringend überlegen, wie wir jetzt weitermachen. Ich meine, James Bond macht auch nicht einfach Feierabend, wenn der Bösewicht noch frei herumläuft.«
James Bond! Den kenne ich aus dem Fernsehen! Er ist ein berühmter Geheimagent, sieht (für einen Menschen) ziemlich gut aus, weiß immer, wie er Verbrechern das Handwerk legen kann, und kommt bei den Frauen einfach sensationell an. Also – im Grunde genommen ist er mir ziemlich ähnlich. Nur dass ich noch kein berühmter Agent bin. Aber das kann ja noch werden: Kater Winston – Agent auf leisen Pfoten!
Kira kichert. Ob sie doch wieder meine Gedanken lesen kann? »James Bond! Na klar! Der hat allerdings auch keine russische Großmutter, die ihm die Hölle heißmacht, wenn er zu spät nach Hause kommt.«
»Tja, Leute, ich hab noch etwas Zeit.« Pauli grinst. »Ich habe meiner Mutter einfach gesagt, dass ich heute bei dir übernachte, Kira. Ihr war’s ganz recht, ich hatte den Eindruck, sie hat heute noch etwas vor.«
Kira rollt mit den Augen. »Das heißt, du willst jetzt einfach mitkommen?«
»Genau.«
»Und wie erkläre ich das meiner Mama?«
»Nu entspann dich mal, irgendwas Schlaues fällt uns schon ein. Wäre doch total cool – dann können wir heute Nacht noch mal die ganze Lage besprechen!«
»Klasse Idee!«, ruft Tom, zieht ebenfalls sein Handy aus der Hosentasche und wählt eine Nummer. »Hallo, Papa, hier ist Tom! Du, wir sind hier immer noch mitten in unserer Probe. Wäre es okay, wenn ich heute bei Kira übernachte? Pauli darf auch, ihre Mutter hat nichts dagegen. Okay? Danke!« Er steckt sein Handy wieder in die Tasche. »So, bin auch dabei! Wollen wir los?«
»Hey, Moment mal! Wir können doch nicht einfach eine spontane Übernachtungsparty bei mir starten! Meine Mutter bekommt die Krise, wenn sie das mitkriegt! Meine Oma ist seit heute zu Besuch und Babuschka ist verdammt anstrengend. So locker meine Mama normalerweise ist – das ist heute nicht drin!«
Was soll ich sagen? Das kann ich nur bestätigen! Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was passiert, wenn morgen drei Kinder anstelle von einem zum Frühstück erscheinen. Zu Babuschkas Vorstellung von guter Kindererziehung passt das garantiert nicht.
»Ooch, Kiralein«, flötet Pauli, »deine Mama wird uns schon nicht mitten in der Nacht vor die Tür setzen. Besondere Umstände erfordern besondere Maßnahmen. Du hast doch den Brief gelesen: Übermorgen Nachmittag ist die nächste Übergabe geplant. Wenn wir einen Vorsprung vor der Polizei gewinnen wollen, müssen wir sofort loslegen.«
Kira seufzt. »Na gut. Dann kommt mit. Aber das klappt nur, wenn meine Mama und Oma noch nicht zu Hause sind. Dann können wir heimlich reinschlüpfen. Sonst müsst ihr nach Hause gehen.«
Pauli und Tom nicken. »Gebongt.«
Odette knufft mich in die Seite.
»Hey, wenn es nun schon eine Lagebesprechung gibt, will ich auch dabei sein. Ich komme einfach mit in eure Wohnung, einverstanden?«
Einerseits eine wirklich tolle Idee – Odette in meiner Wohnung, eine Wahnsinnsvorstellung! Andererseits: Babuschka! Ein bisschen Angst habe ich schon vor ihr! Aber dann denke ich an James Bond und beschließe, dass sich auch Geheimagenten auf vier Pfoten nicht vor Großmüttern fürchten, jawoll!
»Psst! Leise! Ihr seid viel zu laut! Ich glaube, jetzt sind sie gerade nach Hause gekommen!« Kira versucht sich in einer Mischung aus Flüstern und Schimpfen, was nur so halbwegs klappt. Ihr Zimmer ist mittlerweile die Zentrale des Kommandos »Rettet Emilia«. Kira, Tom und Pauli sitzen im Kreis auf dem Boden, Odette und ich hocken daneben.
Tatsächlich hat eben die Wohnungstür geklappert und nun hört man auch deutlich Stimmen im Flur: Werners tiefe, sanfte und dann Annas – deutlich heller. Babuschka ist anscheinend müde, sie sagt jedenfalls nichts. Auch gut. Irgendwann hört also jeder Drache einmal auf, Feuer zu speien.