Schritte kommen näher und das Jucken meiner Schwanzspitze verrät mir, dass hier mit Ärger zu rechnen ist. Großem Ärger. SEHR großem Ärger! Annas Kopf taucht im Türrahmen auf.
»Ich koche noch Eier. Wollt ihr beiden auch …« Ihre Stimme erstirbt. Mit einem Satz steht sie neben Babuschka. »WAS ist denn hier los?«, ruft sie und klingt dabei ziemlich fassungslos.
Nun wühlen sich auch Pauli und Tom aus den Decken und Odette streckt ihr bezauberndes Köpfchen in die Höhe.
»Kira! Du bist gestern nicht mitgekommen, weil du angeblich so müde warst! Sag bloß, du hast hier heimlich eine Party gefeiert?!« Annas Stimme klingt nach mindestens vier Wochen Stubenarrest. Und nach keine Geschenke an Weihnachten. Auweia!
Babuschka wiegt den Kopf hin und her und murmelt: »Joi, joi.« Wahrscheinlich überlegt sie gerade, ob sie an dieser Stelle nicht noch einmal eine schöne Rede über Kindererziehung in Russland, und warum die viel besser funktioniert, halten sollte.
»Ja, also«, beginnt Kira stockend, »ich wollte es Babuschka gerade erklären – wir mussten gestern doch noch mal für unser Musical üben. Es gab noch so viele Änderungen und ich spiele jetzt die Hauptrolle. Da ist es natürlich total wichtig, dass ich richtig, richtig gut bin.«
»Aha?« Anna überlegt. Das ist schon mal gut – ich hätte wetten können, dass sie sofort lospoltert. Was für eine gewiefte Taktikerin Kira aber auch ist! Wenn etwas bei Anna zieht, dann die Behauptung, man müsse sich für die Schule reinhängen. Ich erinnere mich noch mit Grausen an die Zeit, in der ich als Kira in die Schule gehen musste. Bei Mathehausaufgaben kannte Anna überhaupt keinen Spaß. Und eine Hauptrolle im Schulmusical lässt ihr Mutterherz doch bestimmt auch höher schlagen.
»Ja, weißt du, um die Rolle musste ich total kämpfen, weil sie erst ein anderes Mädchen bekommen hat. Aber die ist dann krank geworden und da habe ich meine Chance genutzt.«
Aus den Augenwinkeln sehe ich, dass Babuschka auf einmal anfängt, sehr milde zu lächeln. Gütig geradezu. So kenne ich sie gar nicht! Offensichtlich ist auch sie eine Befürworterin von schulischem Ehrgeiz.
Kira scheint den Stimmungsumschwung auch bemerkt zu haben, denn sie legt nach: »Tja, und um besonders gut zu sein, muss ich jetzt natürlich hundert Prozent geben. Ich habe leider einiges nachzuholen, denn mir fehlen ja einige Probentage für die Hauptrolle. Bei dem Gedanken daran konnte ich gestern leider nicht einschlafen – obwohl ich doch so müde war! Und deswegen habe ich schließlich Tom und Pauli angerufen und sie gefragt, ob sie mir helfen können.« Kira wirft ihrer Mutter einen besonders treuherzigen Blick zu. Den habe ich bisher nur bei Hunden gesehen, aber Kira hat ihn auch echt gut drauf. Ich gucke rüber zu Anna – wird sie diese faustdicke Lüge schlucken?
Sie wird! Ein Strahlen wandert über ihr Gesicht. So schön kann man wirklich nur lächeln, wenn man keinen Pelz mit sich herumträgt, so wie meiner einer.
»Gut, das ist natürlich etwas anderes, mein Schatz!« Sie geht hinüber zu Kira und umarmt sie. »Da bin ich aber mächtig stolz auf dich. Und dann wollt ihr nach dem Frühstück bestimmt weiterüben, richtig?«
Kira nickt. »Jaja. Genau so ist es. Wir werden die Lieder und die Sprechtexte weiter einstudieren, damit es morgen bei der nächsten Probe auch wirklich gut sitzt. Pauli hat sogar noch eine zweite Katze mitgebracht, damit wir noch eine richtig tolle Tiernummer für die Aufführung einüben können. Du weißt doch: Winston spielt ja auch mit.« Tolle Tiernummer? Mit Odette und mir? Jetzt trägt Kira aber ein bisschen sehr dick auf – das muss Anna doch merken! Wir sind schließlich keine dressierten Pudel, die im Zirkus durch brennende Reifen springen! Also so was!
Anna merkt es nicht. Stattdessen ist sie jetzt regelrecht begeistert. »Das finde ich ja gut!«, ruft sie. »Dann decke ich mal zwei Teller mehr auf, damit sich Tom und Pauli auch stärken können.«
Kurz darauf sitzen meine Menschen gut gelaunt am Frühstückstisch. Werner hat frische Brötchen geholt und Anna erzählt ihm begeistert von Kiras Hauptrolle. Werner lächelt.
»Super, dann bekommen wir demnächst in der Schule also richtig was geboten! Ich darf doch auch kommen, oder?«
Kira nickt. »Klar, da freuen wir uns. Bis dahin üben wir noch ordentlich, damit auch alles gut klappt. Wir werden uns gleich wieder unseren Text schnappen und noch einmal alles durchgehen.«
»Oh«, Werner klingt enttäuscht. »Ich habe mir heute das Segelboot meines Bruders für einen Familienausflug geliehen. Ich wollte deiner Großmutter eigentlich bei einem Törn auf der Alster Hamburgs schönste Seiten zeigen.«
Kira zuckt mit den Schultern. »Also, ich kann heute leider nicht, wir müssen hierbleiben und üben. Gerade bei den Liedern bin ich noch nicht ganz textsicher.«
Ganz schön schlau von Kira! So sind wir die Erwachsenen gleich los und können ungestört auf dem Schrottplatz nach einer heißen Spur suchen.
»Das ist wirklich löblich«, Werner ringt sich zu einem Lächeln durch. »Dann wird es eben ein kleinerer Ausflug, nur mit deiner Mutter und Großmutter.«
»Wirklich, Werner! Sie machen sich so viel Mühe für meine Mutter! Das müssen Sie aber gar nicht – Sie sind ein so beschäftigter Mann!«, wirft Anna ein.
»Das mache ich doch gern. Ist für mich auch eine gute Gelegenheit, mal wieder segeln zu gehen. Ich komme viel zu selten dazu. Eine Win-Win-Situation.« Werner grinst, ich verstehe nur Bahnhof. Win-Win? Ist das Chinesisch für Segeln?
»Aber wenn es vor allem um die Lieder geht«, überlegt Anna nun laut, »dann ist es vielleicht besser, ich bleibe auch da und begleite die Kinder auf dem Klavier. Dann klappt es bestimmt noch besser.«
Maunz! Nein, das geht doch nicht! Dann können wir nicht auf den Schrottplatz.
»Och nö! Anna, da bin ich aber enttäuscht, wenn Sie nun auch nicht mitkommen!«, beschwert sich Werner. »Sie waren doch bestimmt auch noch nie auf der Alster segeln und Sie würden wirklich etwas verpassen. Es ist wunderschön!«
»Ja, die Idee finde ich auch toll – aber …«
»Nichts aber!«, unterbricht Kira ihre Mutter. »Du kannst Professor Hagedorn doch nicht enttäuschen. Ich meine, wenn er nun schon extra das Boot besorgt hat. Wir kommen hier auch alleine klar. Geht ihr mal lieber segeln.«
»Habe ich Idee!«, mischt sich nun auch noch Babuschka ein. »Segel ich nicht mit, sondern spiele Klavier für Kinder. Ich finde Idee zwar sehr freundlich von Professor, aber auf Bott wird mir schnell schlecht. Ich helfe lieber Kinder. Anna, gehst du segeln und ich bleibe hier. Wenn mit Üben fertig, dann mache ich Pelmeni.«
»Oh, das würdest du machen, Mamuschka?«, freut sich Anna. Einen Moment lang hoffe ich, Werner könnte widersprechen – immerhin hat er das Boot doch extra für Babuschka besorgt! Aber auch Werner scheint der Gedanke an einen kleinen Bootsausflug allein mit Anna zu gefallen. Jedenfalls lächelt er fröhlich und auf einmal beschleicht mich das Gefühl, dass es ihm sogar ganz recht ist, ohne Babuschka in See zu stechen.
»Na gut, bevor Ihnen schlecht wird, Frau Kovalenko … Anna, wenn Sie auch ohne Ihre Frau Mutter Lust zu unserem Ausflug haben, dann zeige ich Ihnen Hamburg vom Wasser aus natürlich gern. Und Sie können sich natürlich an den Flügel setzen, Frau Kovalenko. Ich freue mich, wenn wir Verwendung für ihn finden!«
Okay, damit ist Kiras Flunkerei doch eher ein Eigentor gewesen. Gleich werden wir hier mit Babuschka sitzen und ich glaube nicht, dass auch nur irgendein Kind das Haus verlassen darf, bis sämtliche Lieder und Texte gründlich sitzen und alle Katzen eine ominöse »Tiernummer« beherrschen. Good bye, Verbrecherjagd, hello, Zirkusdressur!
Es kommt, wie es kommen musste: Kaum sind Werner und Anna aus der Tür, richtet sich Babuschka mit einem geübten Handgriff ihre Turmfrisur, streckt den Rücken durch und klatscht in die Hände. »Gutt, Kinderrrr!«, ruft sie mit besonders lang gezogenem Rrrrr. »Fangen wir also mit Üben an! Wo sind Noten?«