«Mabel…«, sagte Dr. Bouth. Dann verließen ihn die Gedanken, und er sank über ihr zusammen.
Ibn Menra kauerte im Straßengraben. Er hatte als erster gesehen, wo sich ein Busch bewegte. Gleich an der Straße, keine fünfzig Meter entfernt, lag der Schütze, der Dr. Bouth angeschossen hatte.
Heinz Behrenz suchte den Hang ab, der sanft zur Straße abfiel und dicht bewachsen war. Hier, hinter einem Baumstamm, lag Zanewskij und wartete. Gregoronow, in dem Busch an der Straße, schoß mit gleichgültiger Miene in die Reifen des Wagens. Als er sah, wie er in sich zusammensackte, lachte er zufrieden. Sein breites Gesicht zeigte Zufriedenheit. Er wechselte das Magazin seiner Waffe und blickte hinüber zu dem Graben, in dem ibn Menra und Behrenz lagen.
«Wir kommen so nicht weg. «Der Marokkaner kroch an Heinz Behrenz heran.»Versuchen Sie, zum Wagen zu kommen. Fahren Sie ab.«
«Und Sie?«
Ibn Menra schüttelte den Kopf.»Ich bleibe hier. Ich decke Ihre Abfahrt. Retten Sie Miß Paerson und Dr. Bouth vor den Russen.«
«Ich lasse Sie doch nicht allein!«
Ibn Menra legte sich auf den Rücken und blickte in den wolkenlosen, blauen Himmel. Sein Gesicht war fern.
«Ich bin ein Mörder, ich gehöre nicht mehr in die Gesellschaft der Menschen. Was habe ich im Leben zu erwarten? Eine neue Jagd, dieses Mal um meinen Kopf. Eine Gerichtsverhandlung, ein Verhör, die Entdeckung meiner Tätigkeit, der Verrat des Landes, für das ich arbeitete… und am Ende der elektrische Stuhl. Warum das alles? Wir können dieses Verfahren doch verkürzen. Wo wird mir eine so gute Gelegenheit geboten wie hier?«Er lächelte wieder das rätselhafte Lächeln.»Ich habe mir immer gewünscht, nicht im Bett, sondern unter der heißen Sonne meiner Heimat zu sterben… draußen, wo der Atem der Wüste über den Atlas weht, und wo der Schrei der Tuareg die Rinderherden antreibt. Man soll sich so etwas nie wünschen. Nein! Immerhin scheint auch jetzt die Sonne, und es ist warm. Wenn man die Augen schließt und an nichts anderes denkt, könnte man glauben, es ist alles so, wie man es sich erträumte: Wärme, Luft und Weite. «Er drehte sich zu Behrenz herum, der ihm erschüttert zuhörte.»Ich heiße Kezah ibn Menra. Ich arbeitete für Spanien.«
«Ich heiße Heinz Behrenz und arbeitete für Japan.«
Sie gaben sich die Hand. Sie fühlten, wie sie zitterte.
«Japan ist ein schönes Land. «Ibn Menra lud seine Waffe neu.»Ich habe einmal — vor dreizehn Jahren — in Tokio gewohnt. Kurze Zeit nur. Na ja…«, er winkte ab.»Laufen Sie, Heinz… ich bleibe hier.«
«Nur, wenn Sie mitkommen, Kezah.«
«Nein!«Er drehte sich wieder auf den Bauch und kroch an den Rand des Grabens.»Warum wollen Sie mein Leben erhalten? Es ist mir selbst nichts mehr wert. Und — das wissen Sie doch — wenn wir den Glauben an uns selbst verlieren, ist der Tod eine Erlösung. - Gehen Sie, Heinz.«
«Ich verspreche es Ihnen, Kezah.«
«Danke…«
Ibn Menra kroch an den Rand des Grabens und schoß auf den Busch. Gregoronow, der es in seinem Blattwerk rauschen hörte, fluchte wild und feuerte zurück. Auf dem Berg lag noch immer Zanewskij und wartete.
Heinz Behrenz blickte zu ibn Menra hin. Er zögerte. Ist es Feigheit, wenn ich laufe? dachte er. Oder rette ich damit Dr. Bouth und Mabel Paerson? Ist es gemein, einen Kameraden jetzt allein zu lassen?
Er dachte nicht weiter, sondern schnellte sich empor. Wie er es gelernt hatte, im weiten Übungsgelände der Wahner Heide, unter den Kommandos ostpreußischer Unteroffiziere, rannte er um sein Leben. Drei Schritte vor… hinlegen… Drei Schritte… hinlegen. Eine Strecke gerobbt, auf dem Bauche kriechend wie eine Schlange… dann wieder auf… drei Schritte… hinlegen.
Sein Körper überzog sich mit Schweiß.
Kalt, sicher, wie eine Maschine schoß Gregoronow. Er zielte genau und drückte ab. Beim Rückschlag nahm er den Kopf etwas zur Seite.
Heinz Behrenz schnellte weiter. Entsetzt sah er beim Laufen, daß die Reifen des Wagens durchschossen waren.
Weiter… weiter… dachte er. Bis Vernal kann ich auf den Felgen fahren. Nur hinter dem Steuer muß ich sitzen. Hinter dem Steuer.
Eine Faust krachte ihm in den Rücken. Verwundert sah er sich um, den Boxer anzubrüllen.
Hinter ihm stand niemand. Da wußte er, daß er getroffen war. Ein Zittern lief durch seinen Körper. Die Beine waren wie gelähmt. Er hetzte weiter, ohne sich noch einmal hinzuwerfen. Er wußte, daß er nicht wieder aufstehen konnte, wenn er lag. Noch zweimal stieß ihn die Faust in den Rücken, zweimal schrie er auf und prallte dann gegen den Wagen. An den Türklinken zog er sich weiter, riß die Tür auf, ließ sich hinter das Steuer fallen und drehte den
Zündschlüssel herum.
Heulend schrie der Motor auf.
Gregoronow in seinem Busch hieb mit der Faust auf die Erde. Er wollte hervorstürzen, aber Kezah ibn Menra verlegte ihm den Weg. Sein Schuß ging haarscharf an Gregoronows Kopf vorbei.
Der Russe ging zu Boden und feuerte zurück. Ohnmächtig, von den Schüssen ibn Menras niedergehalten, sah er, wie der Wagen anfuhr. Auf den Felgen, fluchte er. Er fährt tatsächlich auf den Felgen. Und ich habe ihn getroffen… dreimal in den Rücken… Warum, zum Teufel, schießt denn Zanewskij nicht? Er kroch tiefer in den Busch.
Zanewskij stand oben am Hang, an einen Baum gelehnt, und blickte hinab auf die Straße. Den Revolver hielt er in der Hand, aber er schoß nicht. Er sah, wie Dr. Bouth mit Mabel zum Wagen wankte, er sah Heinz Behrenz durch den Graben hetzen, und es wäre ihm ein leichtes gewesen von seinem Standpunkt aus jede Bewegung unter sich zu ersticken.
Er tat es nicht. Er wußte, daß es zu spät war. Zu spät zum Schießen, zu spät für einen Erfolg.. zu spät vor allem für Nowo Krasnienka.
Als das Auto anfuhr und langsam auf die Straße rollte, ratternd und knirschend, schloß er die Augen.
«Auf Wiedersehen, Wanda Feodora«, sagte er leise.
Mit einem Ruck hob er den Revolver und steckte den kurzen Lauf in seinen Mund. Der Stahl war kalt und glatt.
Mit geschlossenen Augen drückte er ab…
In dem gleichen Augenblick, in dem Zanewskij büßte, fiel unten im Graben der Straße Kezah ibn Menra. Ein kleines, kreisrundes Loch war in seiner braunen Stirn.
Er rollte in den Graben zurück, auf den Rücken und starb.
Und merkwürdig… um seine Lippen war wieder das Lächeln, als Gregoronow sich über ihn beugte.
*
Über Los Alamos lag die Nacht.
Die Uranbrenner, die Cyclotrone, die Betatrone, die Hanford-Anlagen arbeiteten. Ununterbrochen. Tag und Nacht. Schicht nach Schicht fuhr ein, gleichgültig, ob eine Mabel Paerson oder ein Dr. Bouth verschwunden waren. Die Arbeit mußte weitergehen, es ging um den Vorsprung, den Amerika vor allen anderen Staaten hatte, es ging um die Erhaltung der Erde.
Um den Frieden aus Furcht.
Los Alamos kannte keine Ruhe.
In seinem Labor saß Prof. Dr. Paerson vor einer Marmortafel. Ein Gewirr von Uhren leuchtete in den sonst dunklen Raum. Hinter den Uhren, verborgen durch meterdicke Betonklötze, war die Spaltungsanlage in den Felsen gesprengt, gesichert durch Graphitblöcke und mit neutronendämmenden Cadmiumstreifen und
B or stahl stäben versehen. Mit automatischen Greifern konnten sie einzeln herausgezogen werden, und der Strom der spaltenden Neutronen wurde stärker und heftiger. Im Inneren sah dieser Brenner wie eine Riesenkugel aus Graphit aus, in dem eingebettet, wie ein Ei in einem Nest, das spaltbare Uran 235 lag. Die Kugel war oben etwas eingedrückt, ähnlich der Erdgestalt, es war, wie der Mathematiker sagt, ein an den Polen abgeglätteter Sphäroid… ein neuer Stern mit der Leuchtkraft von sechzehn Sonnen, nicht dreißig Meter hoch.
Ein Stern, den ein Mensch schuf.
Prof. Paerson saß vor dem Oszilloskop und beobachtete das Pendeln auf der Skala. Er war in diesen Tagen ein alter Mann geworden. Sein Gesicht war zerknittert, seine Gestalt nach vorn übergezogen, um seine Augen lagen tiefe Schatten, die unter den Brillengläsern unheimlich vergrößert wurden.