Kapitel 6
Die Uinta Mountains lagen hinter ihnen. An der Quelle des Bear Rivers rasteten sie und wuschen sich die wunden Füße. Noch wenige Kilometer durch die Wasatch Mountains, und sie mußten aus der Einsamkeit vergessener Landstriche herauskommen in die Nähe der kleinen Stadt Evanston… in die Nähe der Straße, die nach Salt Lake City führte… hinein in das wiedergewonnene Leben.
Mabel stützte Ralf während der langsamen, schrittweisen Wanderung durch das Gebirge. Obwohl sie selbst zusammenbrechen konnte, riß sie sich empor und ertrug den schweren Arm auf ihrer Schulter, der sie fast zu Boden drückte.
Seit zwei Tagen wanderten sie. In diesen zwei Tagen erkannte Mabel, was eine Frau zu leisten vermag, wenn man ein Leben in ihre Hand legt.
Sie schleppte Dr. Bouth durch die Schluchten und Hohlwege, wusch sein schmerzverzerrtes Gesicht mit Wasser, wenn er nicht mehr gehen konnte und sie am Wegrand im Gras saßen, um neue Kraft zu sammeln. Sie lud das Gewicht seines Körpers auf sich, wenn sie ihn mehr trug als stützte und die Entfernung in die Freiheit mit jedem gestöhnten Schritt kürzer wurde. In der Nacht schliefen sie unter freiem Himmel, eng aneinandergeschmiegt, denn die Steine kühlen sich schnell ab und sind ein gefährliches Bett. Sie lagen unter den Decken, und während Dr. Bouth ermattet einschlief und im Schlaf träumte, lag Mabel Paerson noch lange wach und starrte über sich in den Sternenhimmel.
Am Morgen erwachte sie zuerst. Mit steifen Gliedern
erhob sie sich, deckte Ralf wieder zu und lief ein wenig, mit den Armen um sich schlagend, hin und her, um sich aufzuwärmen. Dann, als die Sonne über die Berggipfel stieg, war es plötzlich zu warm, und sie kühlte den Puls im Wasser eines Baches.
Dr. Bouth wälzte sich auf die Seite. Das tut er immer, wenn er aufwacht, dachte Mabel. Auch das weiß ich jetzt schon… die kleinen Gewohnheiten Ralfs, die so vollkommen das Wesen des Menschen ausdrücken. Wie er sich setzt, wie er den Kopf hält, wenn er etwas Wichtiges ausdrücken will, wie er sich seine Pfeife stopft. Ob er das auch von mir weiß? Ob er mich auch beobachtet und weiß, wie ich mir die Haare kämme und daß ich ein Buch oder eine Zeitung von hinten zu lesen anfange?
Dr. Bouth stützte sich auf die Ellbogen und sah zu Mabel hinüber.
«Guten Morgen, Baby.«
«Guten Morgen, Ralf. «Dann tranken sie Wasser, er ersetzte ihnen den Kaffee. Dr. Bouth studierte die Karte dabei, während Mabel die beiden letzten Mullbinden um die Brust Ralfs wickelte.
Und dann ging es wieder durch die Berge. Langsam. Schritt für Schritt.
Die Sonne brannte und versengte ihnen die ungeschützten Nacken. Nach einer Stunde rasteten sie wieder… sie konnten noch den Platz sehen, wo sie übernachtet hatten, und schon ließen die Kräfte nach und schien der Tag endlos zu werden. Dr. Bouth lehnte den Kopf gegen einen Baumstamm und blickte in den blauweißen, von Hitze durchfluteten Himmel.
«Laß mich hier liegen, Mabel«, sagte er stockend. Und als er sah, wie Mabel entsetzt herumfuhr und den Mund zu einer Antwort öffnete, winkte er ab.»Nein… du sollst mich nicht verlassen. Aber du allein kommst schneller weiter, du kannst die Straße am Abend erreichen, wenn du durchgehst. Und du kannst in der Nacht schon wieder hier sein und mich holen. Es ist das beste für uns alle, glaube es mir, Mabel.«
«Ich lasse dich nicht allein. «Mabel Paerson erhob sich und suchte in dem Verbandkasten nach einem Stärkungsmittel für Ralf.»Wenn du in der Nacht Fieber bekommst, wenn du dich herumwälzt, ist keiner da, der dich wieder zudeckt. Nein, ich gehe nicht!«
«Aber du kannst doch auch nicht mehr. Mabel — ich sehe es dir doch an… du bist am Ende wie ich! Du kannst mich doch nicht auf deinen schmalen Schultern durch die Rocky Mountains schleppen.«
«Ich muß es können… und ich werde es.«
«Wir werden nie die Straße erreichen und beide irgendwo vor Erschöpfung liegenbleiben. «Dr. Bouth ergriff Mabels Hände. Sein Blick war flehend, wie sie ihn noch nie an ihm gesehen hatte. Dieser Blick zerbrach ihren inneren Widerstand, er zeigte ihr, wie ernst es um sie stand und wie deutlich Ralf sein Schicksal kannte.»Geh, Mabel!«sagte er.»Schlage dich allein durch. Ich halte es hier aus, bis du mich holen kommst.«
Sie schluckte.»Und wenn… wenn… wenn du…«Sie wagte nicht, die Worte weiter auszusprechen. Sie wandte sich ab und begann, haltlos zu weinen.
Dr. Bouth legte den Arm um sie.»Ich habe alles hier, Mabel. Ein Bach, an dem ich trinken und mich waschen kann, eine windgeschützte Felsennische für die Nacht… es sind doch nur wenige Stunden, die wir getrennt werden und in denen du mir die Rettung bringst.«
Sie nickte schwach. Es muß sein, dachte sie. Er hat ja recht, ich habe immer an diese Möglichkeit gedacht, und es schien mir Feigheit und gemein, ihn allein zu lassen. Ich werde rennen, so schnell ich kann, ich werde den ersten Menschen, den ich treffe, zu ihm hetzen, ich werde den ganzen Ort Evanston zusammenschreien und ihn mit Fackeln suchen.
Mit Fackeln. Sie sprang plötzlich auf und rannte in den nahen Wald. Dr. Bouth blickte ihr erstaunt nach. Dann kam sie wieder zurück… Reisig im Arm, Holzstücke, Wurzeln und trockene Rinden. Sie schichtete neben Dr. Bouth einen großen Haufen auf… immer wieder rannte sie in den Wald und brachte neue Arme voll Holz.
«Du mußt es anzünden«, sagte sie mit fliegendem Atem, während sie die Zweige aufschüttete.»Du mußt eine hohe Flamme machen. Wir können sie dann von weitem sehen und suchen im Dunkeln nicht vergeblich nach dir.«
«Du willst allein gehen, Mabel?«rief er froh.
«Ja, Ralf. «Sie legte ihm die Decken zurecht, die Zündhölzer, die sie wegen der Feuchtigkeit, die der Abend vielleicht mit sich brachte, in ein Stück Nylon packte, sie holte aus dem nahen Bach den Deckeltopf voll Wasser und stellte ihn neben Ralf, sie bettete seinen Kopf auf den Rucksack und legte die beiden geladenen Revolver griffbereit an seine Seite.
Plötzlich fiel sie auf die Knie und küßte ihn. Über ihr Gesicht rannen die Tränen. Wild umklammerte sie ihn, als wolle ein Unsichtbarer ihn ihr entreißen.
«Ralf…«, schluchzte sie.»Ralf… ich will dich wiedersehen!«
«Ich werde warten, Mabel. «Er strich über die zuckenden Schultern und das schmutzige, verfilzte blonde Haar.
«Du wirst nicht versuchen, allein zu gehen!«
«Nein, Mabel.«
«Versprich es mir.«
«Ich verspreche es. Ich bleibe hier, bis du mich holen kommst.«
«Und wenn mir etwas geschieht und du wartest und wartest…«Entsetzliche Angst schwang in ihrer Stimme. Dr. Bouth sah ihr in die Augen.
«Ich werde bis zum Abend des nächsten Tages warten«, sagte er fest.»Bist du nicht gekommen und ich kann aus eigener Kraft nicht weiter… dann…«Er blickte zur Seite. Dort lagen die Revolver. Lehmverschmiert, unansehnlich, aber scharf geladen. Mabel verstand seinen Blick und sank an seine Brust.
Stumm vergingen die Minuten. Ich höre wieder sein Herz, durchrann es sie. Es schlägt so laut, und es wird nicht mehr schlagen, wenn ich versage… wenn er hier bleibt ohne Rettung und Hoffnung.
Mit einem Ruck riß sie sich los und rannte in den Wald hinein. Nicht umdrehen, schrie es in ihr. Blick nicht zurück, wie er dir nachschaut… nein, dreh dich nicht um… du kannst dann nicht weiter… du versagst dann… laufe… laufe… denke an nichts, als an das Laufen… Deine Füße werden ihn retten, dein Herz, deine Kraft. Jetzt mußt du durchhalten… es geht um ein Leben…
Wie lange sie, ohne anzuhalten, lief, wußte sie nachher nicht mehr zu sagen. Sie fühlte grauenhafte Stiche in der Brust und preßte beide Hände an das Herz, als könne sie es festhalten, wenn es versagte, als müsse sie es schützen und bitten, nicht auszusetzen. Sie stolperte über Wurzeln und Steine, glitt einen Abhang hinunter und fiel in eine schmale Grube, die Fallensteller für das Wild quer durch einen Hohlweg gezogen hatten.