Boshaft fragte er: »Wie viele Briefe gedenkst du denn diesmal herauszuschlagen? «
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»O doch, das weißt du genau.«
Für die Aufnahme in das Social Register brauchte eine neue Aspirantin acht Empfehlungsschreiben von Personen, die bereits darin aufgenommen waren. Nach der letzten Zählung hatte Cindy vier zusammengebracht, wie Mel wußte.
»Bei Gott, Mel, wenn du je etwas sagst — heute abend oder bei anderer Gelegenheit . . .«
»Bekommst du die Briefe umsonst, oder mußt du dafür bezahlen, wie für die beiden letzten?« Er war sich bewußt, daß er jetzt im Vorteil war. Das geschah sehr selten.
Empört erwiderte Cindy: »Das ist eine schmutzige Unterstellung. Es ist unmöglich sich einzukaufen . . .«
»Unsinn«, unterbrach Mel. »Ich habe den Bankauszug von den Schecks auf unser gemeinsames Konto bekommen. Vergiß das nicht.«
Es folgte eine Pause. Dann versicherte Cindy mit leiser wütender Stimme: »Hör mir gut zu! Es ist besser, wenn du heute abend hierher kommst, und zwar schnell. Wenn du nicht kommst, oder wenn du kommst und irgend etwas sagst, das mich in Verlegenheit bringt wie eben, dann ist Schluß. Hast du mich verstanden?«
»Nicht ganz«, antwortete Mel ruhig. Sein Instinkt warnte ihn, daß dieser Augenblick für sie beide bedeutsam war. »Vielleicht sagst du besser genau, was du damit meinst.«
»Rechne es dir selbst aus«, konterte Cindy.
Sie hängte ein.
Während Mel von der Garage zu seinem Büro hinauffuhr, erreichte sein Ärger den Siedepunkt. Er war nie so schnell wütend geworden wie Cindy. Er geriet nur langsam in Hitze. Aber jetzt kochte er.
Er war sich nicht ganz sicher, was im Brennpunkt seines Ärgers stand. Ein großer Teil richtete sich auf Cindy, aber auch andere Faktoren spielten mit. Da war sein berufliches Versagen, wie er es sah, bei der Wegbereitung eines neuen Zeitalters der Luftfahrt erfolgreich mitzuwirken; daß er anscheinend unfähig geworden war, andere noch für seine Überzeugungen zu gewinnen: lauter große, unerfüllte Hoffnungen. Irgendwie war ihm in seinem persönlichen wie in seinem beruflichen Leben seine Unzulänglichkeit zwiefach bezeugt worden, dachte Mel. Seine Ehe war gescheitert oder stand offensichtlich dicht davor; wenn es dazu kam, hatte er auch gegenüber seinen Kindern versagt. Zur gleichen Zeit hatten auf dem Flughafen, wo er Treuhänder für Tausende war, die täglich dort in gutem Glauben durchkamen, seine Mühen und seine Überzeugungskraft versagt, um den Verfall aufzuhalten. Dort verfielen die hohen Normen, an deren Errichtung er gearbeitet hatte, stetig.
Auf dem Weg zum Zwischenstock der Verwaltung begegnete er niemandem, den er kannte. Das war nur gut. Wenn er angesprochen worden wäre, hätte er auf jede Frage eine wütende Antwort geknurrt. In seinem Büro löste er sich aus dem schweren Mantel und ließ ihn, wo er hinfiel, auf dem Boden liegen. Er zündete sich eine Zigarette an. Sie hatte einen beißenden Geschmack, und er drückte sie wieder aus. Als er zu seinem Schreibtisch ging, spürte er den Schmerz in seinem Fuß, der jetzt heftiger auftrat.
Es hatte eine Zeit gegeben — sie schien weit zurückzuliegen —, in der er an einem solchen Abend, wenn sein verwundeter Fuß schmerzte, nach Hause gegangen war, wo Cindy drauf bestand, daß er sich ausruhte. Als erstes hatte er ein heißes Bad genommen, danach hatte sie ihm mit kühlen festen Fingern Rücken und Nacken massiert, während er mit dem Gesicht nach unten auf seinem Bett lag, bis der Schmerz in ihm verklungen war. Selbstverständlich war es unvorstellbar, daß Cindy das je wieder tun würde; doch selbst wenn sie es täte, bezweifelte er, daß es wirkte. Man konnte auch auf andere Weise, als durch gesprochene Worte, den Kontakt miteinander verlieren.
Mel setzte sich an seinen Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hände.
Wie bereits draußen auf dem Flugfeld schauderte er plötzlich. Dann klingelte in dem stillen Büro unvermittelt ein Telefon. Als es wieder klingelte, erkannte er, daß es der an das rote Alarmsystem angeschlossene Apparat auf einem Ständer neben dem Schreibtisch war. Mit zwei schnellen Schritten hatte er ihn erreicht.
»Hier Bakersfeld.«
Er hörte Knacken und weitere Meldungen in der Leitung, als andere ihren Hörer abnahmen.
»Hier Flugsicherung«, verkündete die Stimme des Dienstleiters vom Kontrollturm. »Wir haben eine anfliegende Maschine in Alarmstufe drei.«
9
Keith Bakersfeld, Mels Bruder, hatte ein Drittel seiner Schicht auf der Radarstation der Flugsicherung hinter sich gebracht.
Bei der Radarkontrolle hatte der heutige Sturm eine tiefe, wenn auch nicht unmittelbare physische Wirkung gehabt. Für einen Zuschauer, dachte Keith, dem es an Einsicht für die komplexe Geschichte, die die Ansammlung der Radarschirme vor ihm erzählte, mangelte, hätte es so ausgesehen, als ob der Sturm, der hier draußen raste, an die tausend Meilen weit weg wäre.
Die Radarstation befand sich im Kontrollturm, ein Stockwerk tiefer als der glasumgebene Horst — die Turmkabine —, von der aus die Flugsicherung die Maschinen auf dem Boden und im umliegenden Luftraum dirigierte. Die Jurisdiktion der Radarabteilung reichte über den Flughafen weit hinaus, und die Radarkontrolle überbrückte die Lücke zwischen lokaler Kontrolle und dem nächsten Flugsicherungszentrum. Die Gebietszentren — in der Regel Meilen entfernt von jedem Flughafen — kontrollierten die Hauptflugrouten und den durch ihren Bereich führenden Verkehr.
Im Gegensatz zum oberen Teil des Turms hatte der Radarraum keine Fenster. Tag und Nacht arbeiteten auf Lincoln International zehn Radarkontroller und Inspektoren in ständigem Halbdunkel unter verschleierten milchigen Lichtern. Um sie her, an allen vier Wänden, dicht gepackt: Arbeitsmaterial, Radarschirme, Schalttafeln, Funkgeräte. In der Regel arbeiteten die Kontroller in Hemdsärmeln, da die Temperatur im Winter wie im Sommer konstant auf 21 Grad gehalten wurde, um die empfindlichen elektronischen Geräte zu schützen.
Der im Radarraum vorherrschende Ton war ruhig. Hinter dieser Ruhe verbarg sich aber zu jeder Zeit eine nervöse Spannung. Heute abend war die Spannung durch den Sturm stärker als sonst und wurde in den eben verstrichenen Minuten noch weiter gesteigert. Die Wirkung glich der weiteren Dehnung einer bereits gespannten Feder.
Ursache der zusätzlichen Steigerung war ein Signal auf einem Radarschirm, das seinerseits ein aufblitzendes Rotlicht und eine Alarmglocke im Kontrollraum ausgelöst hatte. Die Alarmglocke war nun abgestellt worden, doch das besondere Radarsignal blieb. Bekannt als Doppelblüte, war es auf dem halbdunklen Schirm wie eine kolossale grüne Nelke aufgeblüht und hatte ein Flugzeug in Not angezeigt. In diesem Falle war das Flugzeug eine KC-135 der US Air Force hoch oben über dem Flughafen im Sturm, die um Notlandung ersuchte. Keith Bakersfeld hatte vor dem flachen Schirm Dienst, und ein Inspektor war inzwischen zu ihm getreten. Beide übermittelten jetzt dringende, eilige Entscheidungen — über direkte Telefonverbindungen an die Kontroller in angrenzenden Positionen und über Sprechfunk an andere Flugzeuge in der Nähe.
Der Dienstleiter im Kontrollturm, ein Stockwerk über ihnen, war über das Notsignal sofort informiert worden. Er seinerseits hatte einen Notstand dritten Grades erklärt und die FlughafenBodeneinrichtungen alarmiert.
Das flache Radargerät — im Augenblick der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit — war eine horizontale, kreisrunde Glasscheibe in der Größe eines Fahrradreifens und ruhte auf einer Tischplattenkonsole. Seine Oberfläche war dunkelgrün mit leuchtend grünen Lichtpünktchen, die alle Flugzeuge in der Luft innerhalb eines Umkreises von vierzig Meilen anzeigten. Ganz wie sich die Flugzeuge bewegten, verschoben sich auch die Lichtpunkte. Neben jedem Lichtpunkt stand ein kleines Kunststoffschild, um das Flugzeug zu identifizieren. Diese Markierungen hießen in der Umgangssprache »Garnelenboote«. Sie wurden von den Kontrollern bewegt, je nachdem wie sich die Flugzeuge bewegten und ihre Positionen auf dem Schirm veränderten. Erschienen weitere Flugzeuge, wurden sie durch Sprechfunk identifiziert und gleichermaßen etikettiert. Neuere Radarsysteme verzichteten auf diese »Garnelenboote«; statt dessen erschienen kennzeichnende Buchstaben-Zahlengruppen, die auch die Flughöhe angaben, unmittelbar auf dem Radarschirm. Aber die neuere Methode war noch nicht allgemein in Gebrauch und wies, wie alle neuen Systeme, Mängel auf, die noch ausgemerzt werden mußten.