Heute abend war eine außergewöhnlich große Zahl von Flugzeugen in der Luft, und irgendwer hatte vorher schon die Bemerkung gemacht, die grünen Nadelpunkte vermehrten sich so rasch wie Ameisen.
Keith saß dicht vor der flachen Scheibe auf einem grauen Stahlstuhl, die hagere, spindeldürre Gestalt vorgeneigt. Sein Körper war gespannt; die unter dem Stuhl übereinandergeschlagenen Beine waren starr wie der Stuhl selbst. Er war konzentriert, sein Gesicht ausgemergelt und angespannt wie schon seit Monaten. Der grüne Widerschein des Geräts betonte unheimlich die tiefen Höhlungen unter seinen Augen. Jeder, der Keith gut kannte, ihn aber, sagen wir einmal, seit einem Jahr nicht gesehen hatte, wäre über seine Erscheinung und sein verändertes Wesen entsetzt gewesen. Früher hatte er eine gelockerte und natürliche Liebenswürdigkeit gezeigt; alle Anzeichen davon waren nun dahin. Keith war sechs Jahre jünger als sein Bruder Mel, wirkte aber erheblich älter.
Die Veränderung von Keith Bakersfeld war von seinen Kollegen bemerkt worden, von denen einige heute abend an anderen Plätzen im Radarraum arbeiteten. Sie kannten auch die Ursache dieser Veränderung, eine Ursache, die echtes Mitgefühl erregt hatte. Aber sie waren praktische Menschen mit einer sehr exakten Aufgabe, und gerade das bewog den Inspektor Wayne Tevis, Keith insgeheim zu beobachten und die Zeichen sich steigernder Anspannung zu registrieren, die sich seit einiger Zeit zeigte. Tevis, ein schlaksiger nölen-der Texaner, saß in der Mitte des Radarraums auf einem erhöhten Stuhl, von dem aus er über die Schultern der Arbeitenden die verschiedenen Radargeräte mit ihren besonderen Funktionen beobachten konnte. Tevis persönlich hatte den Stuhl mit Gleitrollen versehen; er ritt ihn zeitweise wie ein Pferd und schob sich mittels Tritten seiner handgearbeiteten Cowboystiefel dorthin, wo er im Augenblick gerade gebraucht wurde.
Während der vergangenen Stunde hatte Tevis sich keinen Moment weit von Keith entfernt. Der Grund war, daß Tevis bereit war, wenn nötig Keith von der Radarwache abzulösen, was, wie ihm sein Instinkt sagte, jederzeit nötig werden konnte.
Der Radarinspektor war ein freundlicher Mann, trotz seines Getues. Er scheute vor dem zurück, wozu er vielleicht gezwungen war. Er war sich im klaren darüber, wie weitreichend die Folgen für Keith sein würden. Doch das war gleichgültig: wenn es sein mußte, würde er handeln.
Die Augen auf den flachen Radarschirm vor Keith gerichtet, nölte er: »Na Keith, alter Junge, der Braniff-Flug ist scharf am Eastern. Wenn Sie Braniff nach rechts abdrehen, dann können Sie Eastern auf demselben Kurs halten.« Das hätte Keith selber sehen müssen, hatte es aber nicht bemerkt.
Das Problem, an dem die meisten der Besatzung des Radarraums fieberhaft arbeiteten, war, für die KC-135 der Air Force, die bereits zum Abstieg für eine Blindlandung aus zehntausend Fuß angesetzt hatte, freie Bahn zu schaffen. Die Schwierigkeit lag darin, daß unterhalb der großen Düsenmaschine der Air Force fünf FluglinienFlüge warteten, gestaffelt in Zwischenräumen von tausend Fuß, die in einem begrenzten Luftraum kreisten. Alle warteten darauf, mit dem Landen an die Reihe zu kommen. Wenige Meilen auf jeder Seite waren vielbenutzte Anflugschneisen mit weiteren Kolonnen von Flugzeugen, gleichfalls gestaffelt, und noch tiefer befanden sich drei weitere Verkehrsmaschinen bereits beim Landungsmanöver. Irgendwie mußte der Militärflug zwischen den gestaffelten Zivilflugzeugen hindurch nach unten eingefädelt werden, ohne daß es eine Kollision gab. Unter normalen Umständen würde diese Aufgabe die stärksten Nerven auf die Probe stellen. So aber wurde die Situation infolge des Ausfalls der Funkanlage bei der KC-135 noch komplizierter, denn dadurch war die Sprechverbindung mit dem Piloten der Air Force abgerissen.
Keith Bakersfeld schaltete sein Mikrofon ein. »Braniff Acht-Zwo-Neun, sofortige Wendung nach rechts, Kurs Null-Neun-Null.« In solchen Augenblicken, selbst wenn die Spannung fieberhaft gestiegen war, mußte die Stimme ruhig bleiben. Keiths Stimme war schrill und verriet seine Nervosität. Er sah, daß Wayne Tevis scharf zu ihm herüberblickte. Aber die Lichtpunkte auf dem Radarschirm die verdammt dicht beieinander waren, begannen sich zu trennen, so wie der Kapitän der Braniff instruiert worden war. Es gab Momente — und dies war so einer —, in denen die Kontroller Gott, oder an was immer sie glaubten, für die prompte, wachsame Reaktion der Fluglinienpiloten dankten. Die Piloten mochten wohl darüber fluchen — und taten es später auch —, wenn ihnen unerwartet Kursänderungen angegeben wurden, die knappe und plötzliche Wendungen erforderten, wodurch die Passagiere erschreckt wurden.
Aber wenn ein Kontroller den Befehl gab »sofort«, gehorchten sie unverzüglich und maulten erst hinterher.
In ein oder zwei Minuten würde der Braniff-Flug wieder gewendet werden, und das galt auch für Eastern, der auf gleicher Höhe stand. Vorher brauchte man noch neue Kurse für die beiden TWAs — der eine höher, der andere niedriger —, dazu noch eine Lake Central Convair, eine Air Canada Vanguard und eine Swissair, die gerade auf den Schirm kamen. Bis die KC-135 durchgeschleust war, mußten diesen und anderen Maschinen Zickzackkurse gegeben werden, wenn auch nur für kurze Strecken, da keine in angrenzende Lufträume abirren durfte. In gewisser Weise war es wie ein verzwicktes Schachspiel, nur daß alle Figuren auf verschiedenen Niveaus waren und sich mit mehreren hundert Stundenmeilen fortbewegten. Außerdem mußten bei diesem Spiel die Figuren, während sie sich ständig vorwärtsbewegten, höher oder niedriger gebracht werden, auch durften sie einander nie über drei Meilen seitlich und tausend Fuß in der Höhe näher kommen. Und während all das vor sich ging, mußten Tausende von Passagieren, die sich nach dem Ende ihrer Reise sehnten, auf ihren fliegenden Sesseln sitzen bleiben — und warten.
In Augenblicken der Entspannung fragte Keith sich, wie der Pilot der Air Force in seinen Schwierigkeiten und bei seinem Abstieg durch Sturm und einen von Flugzeugen wimmelnden Luftraum sich wohl fühlte. Sehr einsam wahrscheinlich; der Pilot hatte zwar seinen Kopiloten und seine Besatzung, ebenso wie Keith seine Kollegen hatte, die in diesem Augenblick beinahe in Tuchfühlung neben ihm saßen. Doch eine Nähe, die wirklich zählte, war das nicht. Nicht — wenn man allein war in der innersten Kammer seines Gemüts, die kein anderer betreten konnte, und in der man lebte — allein und einsam — mit Erkenntnis, Erinnerung, Gewissen und Angst. Allein, vom Augenblick der Geburt an, bis man starb. Immer und für ewig allein.
Keith Bakersfeld wußte, wie sehr allein ein Mensch sein konnte.
Der Reihe nach gab Keith neue Kurse durch: Swissair, einer der beiden TWAs, der Lake Central und der Eastern. Er konnte hören, wie hinter ihm Wayne Tevis versuchte, mit der KC-135 der Air Force wieder in Funkverbindung zu kommen. Immer noch keine Antwort, außer daß das vom Piloten der KC-135 ausgegebene Not-Radar-Signal immer noch auf dem Schirm blühte. Die Stellung der Blüte zeigte aber an, daß der Pilot das Richtige tat und genau die Instruktionen befolgte, die ihm gegeben worden waren, ehe die Funkverständigung ausfiel. Da er so handelte, dürfte er gewußt haben, daß die Flugsicherung seine Bewegungen vorausgeahnt hatte. Er mußte auch wissen, daß seine Position auf dem Radarschirm am Boden beobachtet werden konnte, und verließ sich darauf, daß anderer Verkehr ihm aus dem Weg gehalten würde.