Zur Konzentration kam noch ein anderes Erfordernis — eine beherrschte, angelernte Ruhe während des ganzen Dienstes. Diese beiden Erfordernisse — widersprüchlich in Begriffen der menschlichen Natur — waren geistig erschöpfend und wurden auf die Dauer zur Plage. Viele Kontroller bekamen Magengeschwüre, die sie verheimlichten, aus Angst, die Stellung zu verlieren. Folge dieser Verheimlichung war, daß sie lieber für ärztliche Behandlung bezahlten, als die freie ärztliche Betreuung in Anspruch zu nehmen, zu der sie ihre Anstellung berechtigte. Im Dienst verbargen sie ihre Pillenschachteln — »Zur Behebung gastrischer Hyperacidität« — in ihren Spinden und benutzten sie dann eifrig in den Pausen.
Es gab aber noch andere Auswirkungen. Manche Kollegen — Keith Bakersfeld kannte verschiedene — waren zu Hause unfreundlich und reizbar, oder neigten als Reaktion auf die Unterdrückung jedes Gefühls im Dienst zu Wutausbrüchen. Bedenkt man dazu noch die Unregelmäßigkeit der Dienst- und Ruhestunden, die jede Haushaltsführung erschwerte, dann war die Wirkung vorauszusehen. Bei Kontrollern war die Liste der Familienschwierigkeiten sehr lang und die Scheidungsrate hoch.
»In Ordnung«, sagte der Neue. »Ich bin im Bild.«
Keith schob sich von seinem Sitz und legte seinen Kopfhörer ab, als der ablösende Kollege seinen Platz einnahm.
Der Dienstleiter sprach Keith an: »Ihr Bruder sagte, er käme später vielleicht auf einen Sprung herein.«
Keith nickte, als er den Raum verließ. Dem Dienstleiter trug er nichts nach, denn der hatte ja schließlich seine eigene Verantwortung zu verteidigen, und Keith war froh darüber, daß er keinen Protest gegen seine vorzeitige Ablösung eingelegt hatte. Nach nichts verlangte es Keith im Augenblick mehr als nach einer Zigarette, einem Kaffee und Alleinsein. Er war auch froh — da nun die Entscheidung über ihn gefallen war —, aus der Notstandssituation heraus zu sein. In letzter Zeit war er in zu viele verwickelt worden, um es nun zu bedauern, daß er den Höhepunkt einer weiteren versäumte.
Luftverkehrsnotstände der einen oder anderen Art kamen auf Lincoln International täglich mehrere Male vor — wie auf jedem großen Flughafen. Bei jedem Wetter konnten sie eintreten — am klarsten Tag ebensogut wie in einer Sturmnacht wie der heutigen. Im allgemeinen merkten nur wenige Menschen etwas von solchen Vorkommnissen, weil fast alle glücklich gelöst wurden, und selbst Piloten in der Luft wurde selten der Grund für Verzögerungen oder plötzliche Weisungen, dahin oder dorthin abzubiegen, genannt. Einmal brauchten sie es nicht zu wissen, und dann war auch gar keine Zeit für Schwätzereien über Funk. Rettungsmannschaften, Feuerwehr, Unfallwagen und Polizei wurden ebenso wie die oberste Flughafenverwaltung stets alarmiert, und die Verfügungen, die sie trafen, hingen von der erklärten Alarmstufe ab. Stufe eins war die ernsteste, wurde aber selten ausgegeben, denn sie signalisierte einen tatsächlichen Absturz. Stufe zwei war die Warnung von drohender Lebensgefahr oder schwerer Beschädigung. Stufe drei, wie jetzt, war eine allgemeine Alarmierung aller Einrichtungen des Flughafens bereitzustehen, ob sie nun gebraucht wurden oder nicht. Für Kontroller bedeutete jede Alarmstufe zusätzliche Anspannung und Nachwirkungen.
Keith betrat den Garderobenraum, der an den Radarkontroll-raum angrenzte. Jetzt, da er ein paar Minuten hatte, um ruhiger nachzudenken, hoffte er im Interesse aller, daß der Pilot der Air Force KC-135 und alle anderen, die in der Luft waren, sicher durch den Sturm herunterkamen.
Der Garderobenraum war eine kleine Zelle mit einem einzigen Fenster. Drei Wände bedeckten Metallspinde, und eine Holzbank stand in der Mitte. Ein Anschlagbrett neben dem Fenster trug eine wahllose Sammlung von Berichten und Mitteilungen der geselligen Vereinigungen des Flughafens. Eine nackte Birne an der Decke blendete nach dem Halbdunkel im Radarraum. Niemand war sonst in der Garderobe, und Keith griff nach dem Schalter und knipste das Licht aus. Von den Flutlichtern außen am Kontrollturm drang genug Licht herein, um zu sehen. Keith zündete sich eine Zigarette an. Dann öffnete er seinen Spind und holte die Frühstückstasche heraus, die Natalie vor seiner Abfahrt von zu Hause heute nachmittag gepackt hatte. Als er den Kaffee aus der Thermosflasche goß, fragte er sich, ob Natalie wohl ein Zettelchen neben seine Sandwichs gesteckt habe, oder wenn nicht das, dann irgendeinen kleinen Artikel, den sie aus einer Zeitung oder einer Illustrierten ausgeschnitten hatte. Das tat sie oft und hoffte ihn damit, wie er annahm, aufzuheitern. Gleich von Beginn seiner Schwierigkeiten an hatte sie sich sehr darum bemüht. Zuerst hatte sie es mit ganz augenfälligen Mitteln versucht, und als das nichts half, hatte sie zu weniger auffälligen gegriffen, obwohl er stets genau merkte — in einer distanzierten, unpersönlichen Weise —, was Natalie tat und beabsichtigte. In letzter Zeit waren ihre Zettelchen und die Ausschnitte seltener geworden.
Vielleicht hatte Natalie schließlich auch den Mut verloren. Sie sprach wenig in letzter Zeit, und er sah an ihren roten Augen, daß sie manchmal geweint hatte.
Keith hätte ihr gern geholfen, als er das merkte. Aber wie konnte er das — er, der sich ja selbst nicht helfen konnte?
Ein Foto von Natalie war auf der Innenseite seiner Spindtür angeklebt — ein farbiger Schnappschuß, den Keith einmal gemacht hatte. Schon vor langem hatte er das Bild mitgebracht. Jetzt beleuchtete das Licht von draußen das Foto nur schwach, aber er kannte es so gut, daß er deutlich sehen konnte, was darauf war, ob es nun hell beleuchtet war oder nicht.
Das Foto zeigte Natalie im Bikini. Sie saß auf einem Felsen, lachte und schützte mit einer ihrer schlanken Hände die Augen vor der Sonne. Ihr lichtbraunes Haar flatterte nach hinten. Ihr schmales, keckes Gesicht zeigte die Sommersprossen, die jedes Jahr wieder erschienen. In Natalie Bakersfeld steckte etwas von einem frechen, mutwilligen Kobold, aber auch eine große Willensstärke, und die Kamera hatte beides eingefangen. Im Hintergrund des Bildes waren ein See mit blauem Wasser, hohe Weißtannen und eine Felsenschlucht. Sie hatten mit dem Wagen eine Fahrt nach Kanada gemacht, an den Haliburton-Seen gezeltet und die Kinder, Brian und Theo, diesmal in Illinois bei Mel und Cindy zurückgelassen. Dieser Urlaub erwies sich als eine der schönsten Zeiten, die Keith und Natalie je erlebt hatten.
Vielleicht war es gar nicht so schlecht, dachte Keith, sich heute abend daran zu erinnern.
Hinter dem Bild steckte ein zusammengefaltetes Stück Papier.
Das war einer dieser Zettel, an die er gedacht hatte und die Natalie ab und zu in seine Frühstückstasche steckte. Dieser war schon einige Monate alt, und Keith hatte ihn aus irgendeinem Grund aufgehoben. Obwohl er wußte was darauf stand, zog er ihn heraus und trat damit ans Fenster, um ihn zu lesen. Es war ein Ausschnitt aus einer der Illustrierten, und darunter standen ein paar Zeilen in der Handschrift seiner Frau.
Natalie hatte alle möglichen ausgefallenen Interessen, manchmal sehr weitreichende, für die sie Keith und die Jungen zu gewinnen suchte. Dieser Ausschnitt handelte von laufenden Experimenten einiger Genetiker in den Staaten. Wie es da hieß, sei es nun möglich, menschliches Sperma schnell einzufrieren. Das Sperma, tiefgekühlt gelagert, blieb so unbegrenzt lange haltbar. Sobald es wieder aufgetaut wurde, konnte es jederzeit für die Befruchtung von Frauen verwendet werden — sei es bald oder Generationen später. Natalie hatte dazu geschrieben:
»Noah hätte seine Arche um die Hälfte kleiner machen können, hätte er gewußt, was die Spermatozoen alles mit sich machen lassen. Um Babys dutzendweise zu kriegen, braucht man heute also nur noch die Tür zum Kühlschrank zu öffnen.