Nun, ich bin froh darüber, daß wir unseren Anteil noch mit Liebe und Leidenschaft bekommen haben.«
Sie hatte es damals versucht und versuchte immer noch verzweifelt, ihrem Leben wieder eine Wendung zu geben — ihrer beider Leben und dem ihrer Familie —, es auf die Bahn zurückzuführen, die es früher einmal hatte. Mit Liebe und Leidenschaft.
Mel war ihr zu Hilfe gekommen und hatte mit Natalie versucht, seinen Bruder zu bewegen, gegen die Flut der Selbstquälereien und Depressionen anzukämpfen, die ihn völlig überwältigten.
Zu dieser Zeit hatte ein Teil von Keith noch selbst den Wunsch gehabt, darauf einzugehen, hatte versucht, irgendwo im Unterbewußtsein einen Geistesfunken anzufachen, war bemüht gewesen, sich ihrer Kraft dadurch anzupassen, daß er seine eigene stärkte und auf erwiesene Liebe selbst mit Liebe reagierte. Doch die Bemühung mißlang. Sie mißlang — wie er es vorher gewußt hatte —, weil in ihm nichts von Weichheit, nichts von Gefühl übrig geblieben war. Weder Wärme noch Liebe, nicht einmal Ärger darüber, angetrieben zu werden. Nur noch Öde, Gewissensangst und grenzenlose Verzweiflung.
Natalie hatte nun ihren Fehlschlag erkannt, dessen war er sicher. Das war der Grund, vermutete er, weswegen sie weinte, irgendwo, ungesehen.
Und Mel? Auch Mel hatte es vielleicht aufgegeben. Obwohl nicht so ganz und gar — Keith erinnerte sich an das, was ihm der Dienstleiter gesagt hatte. »Ihr Bruder sagte, er würde vielleicht mal hereinschauen . . .«
Es wäre einfacher, wenn Mel es nicht täte. Keith fühlte sich einer Auseinandersetzung nicht gewachsen, gerade weil sie sich ihr ganzes Leben über so nahe gestanden hatten, wie Brüder es nur tun können. Mels Gegenwart mochte zu Verwicklungen führen.
Keith fühlte sich zu ausgelaugt, zu schwach für irgendwelche weiteren Komplikationen.
Er fragte sich erneut, ob Natalie heute wohl wieder einmal einen Zettel zu seinen Broten gesteckt hatte. Er packte seine Vorräte mit aller Vorsicht aus, in der Hoffnung, daß sie es getan hätte.
Er fand Brote mit Schinken und Wasserkresse, eine Dose mit Quark, eine Birne und Einwickelpapier. Sonst nichts.
Jetzt, als er wußte, daß sonst nichts da war, wünschte er verzweifelt, es wäre eine Mitteilung dabeigewesen, irgendeine Nachricht, selbst die allerunwichtigste. Dann fiel ihm ein — es war ja seine eigene Schuld; sie hatte ja keine Zeit dazu gehabt. Heute war er wegen der Vorbereitungen, die er treffen mußte, früher als sonst von zu Hause aufgebrochen. Natalie, der er es nicht vorher angesagt hatte, war in Eile gewesen. Zwar hatte er ihr vorgeschlagen, heute nichts mitzunehmen, sondern in einer der Kaffeestuben auf dem Flughafen schnell einen Happen zu essen. Aber Natalie, die wußte, daß die Kaffeestuben überlaufen und laut sein würden, was Keith nicht ausstehen konnte, hatte ihm widersprochen und so schnell wie möglich alles zurechtgemacht. Sie hatte nicht gefragt, warum er so früh aufbrechen wolle, obwohl sie, wie er wußte, neugierig war. Keith war erleichtert, daß es keine Fragen gegeben hatte. Wenn sie gefragt hätte, dann hätte er irgendwas erfinden müssen, und er hätte es ungern gesehen, wenn die letzten Worte zwischen ihnen eine Lüge gewesen wären.
So aber war ausreichend Zeit geblieben. Er war in das Geschäftsviertel des Flughafens gefahren und hatte sich in der O'Hagan Inn eingetragen, wo er schon früher am Tage telefonisch ein Zimmer bestellt hatte. Er hatte alles sorgfältig überlegt und folgte einem bereits vor einigen Wochen ausgearbeiteten Plan — aber er hatte mit dessen Ausführung gewartet, sich Zeit gelassen, um darüber nachzudenken und seiner selbst sicher zu sein, ehe er ihn in die Tat umsetzte. Er hatte sich sein Zimmer angesehen und dann das Hotel verlassen und war noch rechtzeitig zum Beginn seines Dienstes auf dem Flughafen angekommen.
Die O'Hagan Inn war nur ein paar Minuten Wagenfahrt vom Lincoln International Airport entfernt. In einigen Stunden, sobald seine Schicht beendet war, würde er schnell hinfahren. Den Zimmerschlüssel hatte er in der Tasche. Um sich dessen zu vergewissern, zog er ihn heraus.
10
Die Mitteilung über eine Versammlung der Bürgerschaft von Meadowood, die der Dienstleiter Mel vor kurzem durchgegeben hatte, stimmte genau.
Diese Versammlung im Gemeindesaal der Kirche von Meado-wood — fünfzehn Düsenflugsekunden vom Ende der Startbahn Zwei-Fünf entfernt, tagte bereits seit einer halben Stunde. Sie hatte später als vorgesehen begonnen, da die meisten der Anwesenden sich ihren Weg zu Fuß oder im Wagen durch tiefen Schnee hatten bahnen müssen. Doch irgendwie waren sie gekommen.
Es war eine gemischte Gesellschaft, wie man sie in jeder durchschnittlich wohlhabenden Trabantenstadt findet. Von den Männern waren einige mittlere Beamte, andere Handwerker, mit einem Einsprengsel von lokalen Geschäftsleuten. Der Zahl nach waren Männer und Frauen annähernd gleich. Da es Freitagabend war, also Anfang des Weekends, waren die meisten nachlässig gekleidet; darin machten nur ein halbes Dutzend Besucher von außerhalb und verschiedene Pressereporter eine Ausnahme.
Der Saal war unangenehm überfüllt, die Luft stickig und verräuchert. Alle vorhandenen Stühle waren besetzt, und mindestens hundert Personen mußten stehen.
Daß überhaupt so viele an einem solchen Abend ihre warmen Wohnungen verlassen hatten und erschienen waren, war ein Beweis für ihren Unmut und ihre Sorge.
Im Augenblick waren auch alle gleich wütend.
Diese Wut lag in der Luft, spürbar wie der Tabaksqualm, und hatte zwei Ursachen. Die erste war die seit langem herrschende Erbitterung über ein Nebenprodukt des Flughafens — den donnernden, ohrenbetäubenden Lärm der Düsenmaschinen, der Tag und Nacht über die Häuser Meadowoods herfiel, und sowohl im Wachen wie im Schlafen Frieden und Privatsphäre zerrüttete. Die zweite war die gegenwärtig herrschende Behinderung: Während eines großen Teils der Zusammenkunft waren die Teilnehmer bisher nicht in der Lage gewesen, sich einander verständlich zu machen.
Mit gewissen akustischen Schwierigkeiten hatte man ja gerechnet. Schließlich war es der Lärm, um den es bei der Versammlung ging, und deshalb war eine transportable Lautsprecheranlage von der Kirche ausgeborgt worden. Nicht gefaßt war man aber darauf, daß heute abend Düsenmaschinen unmittelbar über dem Dach aufsteigen und menschliche Ohren und technische Sprechanlagen außer Gefecht setzen würden. Der Grund dafür, den die Versammlung nicht kannte und der sie auch nicht interessierte, war, daß eine festgefahrene Boeing 707 der Aereo Mexican Startbahn Drei-Null blockierte und die anderen Flugzeuge angewiesen wurden, statt dessen Startbahn Zwei-Fünf zu benutzen. Und diese Startbahn zielte wie ein Pfeil direkt auf Meadowood. Startbahn Drei-Null dagegen lenkte die Abflüge wenigstens leicht seitwärts.
In einen Augenblick der Stille hinein brüllte der Versammlungsleiter mit gerötetem Gesicht: »Meine Damen und Herren, seit Jahren haben wir mit der Flughafenleitung und den Fluggesellschaften zu verhandeln versucht. Wir haben auf die Beeinträchtigung unseres häuslichen Friedens hingewiesen. Wir haben dargetan, mit unabhängigen Gutachten dargetan, daß ein normales Leben unter diesem Trommelfeuer von Lärm, das wir über uns ergehen lassen müssen, unmöglich ist. Wir haben vorgebracht, daß unsere Gesundheit unmittelbar gefährdet ist, daß unser Leben und das unserer Frauen und Kinder von Nervenzusammenbrüchen bedroht wird, die einige unter uns bereits erlitten haben.«
Der Versammlungsleiter war ein feister, kahlköpfiger Mann in den Sechzigern. Er hieß Floyd Zanetta, war Geschäftsführer einer Druckerei, Hausbesitzer in Meadowood und bekannt dafür, daß er sich der Gemeindeangelegenheiten annahm. An seinem sportlichen Sakko trug er das Abzeichen seiner langjährigen Zugehörigkeit zu den Kiwanis. Neben ihm nahm ein makellos gekleideter jüngerer Mann das kleine Podium am Kopfende des Saales ein. Der jüngere Mann saß; er hieß Elliott Freemantle und war Rechtsanwalt. Eine Aktenmappe aus schwarzem Leder stand geöffnet neben ihm.