Im Augenblick sah die Szene um den beschädigten Lastzug wie die aufgebaute Dekoration für einen Breitwandfilm aus. Das gigantische Fahrzeug lag nach wie vor auf der Seite und versperrte alle vier Fahrbahnen. Inzwischen war es völlig eingeschneit, und da keines seiner Räder den Boden berührte, erinnerte es an einen toten, auf die Seite gewälzten Saurier. Scheinwerfer und Fackeln beleuchteten die Szene dank der Weiße des Schnees taghell. Die Scheinwerfer gehörten zu den drei Abschleppwagen, die auf Patronis Drängen angefordert worden und jetzt alle eingetroffen waren. Die leuchtend roten Warnfackeln waren von den Polizisten aufgestellt worden, die inzwischen auch Verstärkung erhalten hatten, und wenn einer der Beamten im Augenblick nichts anderes zu tun hatte, zündete er eine weitere Fackel an. Das Ergebnis war ein pyrotechnischer Aufwand, der einer Feier zum 4. Juli würdig gewesen wäre.
Die Ankunft eines Fernsehteams vor einigen Minuten hatte den theatralischen Effekt noch verstärkt. Mit gellenden Hupen und vorschriftswidrigem, unerlaubten Blinklicht war das Team selbstbewußt in einem braunroten Kombiwagen mit der ins Auge springenden Aufschrift WSHT über die Böschung neben der Straße heruntergefahren. Die vier jungen Leute hatten in der für Fernsehreporter typischen Art das Kommando an sich gerissen, als ob der ganze Unfall nur ihnen zu Gefallen arrangiert worden wäre und sich nun alles Weitere nach ihrem Belieben zu richten habe. Mehrere der Polizisten, die das vorschriftswidrige Blinklicht an dem Kombiwagen ignoriert hatten, waren damit beschäftigt, die Abschleppwagen aus ihren jetzigen Positionen, nach den Anweisungen der Fernsehleute, in neue zu dirigieren.
Ehe Joe Patroni zu seinem Wagen zurückgegangen war, um zu telefonieren, hatte er diese Abschleppwagen sorgfältig an Stellen bereitgestellt, die ihnen die größtmögliche Hebelwirkung gaben, um den beschädigten Lastzug gemeinsam fortzubewegen. Als er ging, waren die Fahrer und ihre Helfer dabei, schwere Ketten an dem Lastzug zu befestigen, und er wußte, daß das mehrere Minuten in Anspruch nehmen würde. Die Polizei war über seine Hilfe froh gewesen, und ein stämmiger Polizeileutnant, der inzwischen das Kommando am Unfallort übernommen hatte, befahl den Fahrern der Abschleppwagen, Patronis Anweisungen zu befolgen. Unglaublicherweise waren die Ketten jetzt aber wieder abgenommen worden, bis auf eine, die ein grienender Fahrer handhabte, während Scheinwerfer und eine Fernsehhandkamera auf ihn gerichtet waren.
Hinter der Kamera und den Lampen hatte sich eine jetzt noch größer gewordene Zuschauermenge aus den steckengebliebenen Autos angesammelt. Die meisten beobachteten interessiert die Fernsehaufnahme. Ihre frühere Ungeduld und die Unbilden der eisigen, windigen Nacht hatten sie offensichtlich vergessen.
Ein plötzlicher Windstoß fegte Joe Patroni eine Ladung eiskalten Schnee ins Gesicht. Zu spät hob er die Hand an den Kragen seines Anoraks. Er spürte, wie ihm der Schnee in den Halsausschnitt glitt und sein Hemd völlig durchnäßte. Er ignorierte das Unbehagen und ging auf den Polizeioffizier los. »Wer, zum Teufel, hat die Wagen umdirigiert?« herrschte er ihn an. »So, wie sie jetzt stehen, kriegen die keinen Krümel von der Stelle. So behindern sie sich nur gegenseitig.«
»Das weiß ich auch, Mister.« Der große, breitschultrige Leutnant, der den kleinen, gedrungenen Patroni weit überragte, schien einen Augenblick lang verlegen zu sein. »Aber die Fernsehleute wollten eine bessere Einstellung haben. Sie sind von einem lokalen Sender, und es ist für die Nachrichten heute abend, in denen der Schneesturm gezeigt werden soll. Entschuldigen Sie mich jetzt.«
Einer der Fernsehleute — der sich fest in seinen dicken Mantel hüllte —, winkte den Leutnant jetzt ins Bildfeld. Ohne auf den fallenden Schnee zu achten, schritt der Leutnant, seiner Autorität bewußt, mit erhobenem Kopf auf den Abschleppwagen zu, auf den die Kamera gerichtet war. Zwei Polizisten folgten ihm. Der Leutnant, sorgsam darauf bedacht, daß er das Gesicht der Kamera zuwendete, begann mit weiten Gesten beider Arme dem Fahrer des Abschleppwagens Befehle zu geben, die zum größten Teil sinnlos waren, sich auf dem Bildschirm aber eindrucksvoll ausnehmen würden.
Joe Patroni hatte nur vor Augen, daß er so schnell wie möglich zum Flugplatz mußte, und spürte, wie der Ärger in ihm aufwallte. Er nahm sich zusammen, um nicht vorzustürzen und die Fernsehkamera und die Scheinwerfer zu packen und zu zerschmettern. Das war ihm zuzutrauen; instinktiv spannten sich seine Muskeln, ging sein Atem schneller. Nur mühsam beherrschte er sich.
Einer der Charakterzüge Joe Patronis war sein leicht entflammbares gewalttätiges Temperament. Glücklicherweise war er nicht leicht aus der Fassung zu bringen, wenn es aber dazu kam, verließen ihn Vernunft und Logik völlig. Während seiner Mannesjahre hatte er gelernt, sein ungezügeltes Temperament zu beherrschen. Es war ihm nicht immer gelungen, wenn ihm heutzutage auch ein unvergeßliches Erlebnis dabei half. Einmal hatte seine Selbstbeherrschung versagt. Die Erinnerung daran verfolgte ihn seither.
Während des zweiten Weltkrieges in der amerikanischen Luftwaffe war Joe Patroni ein gefürchteter Amateurboxer gewesen. Er kämpfte als Mittelgewichtler und stand damals unmittelbar davor, in seinem Abschnitt auf dem europäischen Kriegsschauplatz Meister seiner Klasse in der Luftwaffe zu werden.
Bei einem Turnier, das, kurz vor der Invasion in der Normandie, in England veranstaltet wurde, mußte er gegen einen brutalen, harten Burschen namens Terry O'Hale aus Boston antreten, einen Mann, der den Ruf der Hinterhältigkeit sowohl innerhalb wie außerhalb des Rings hatte. Joe Patroni, damals als junger Gefreiter Mechaniker in der Luftwaffe, kannte O'Hale und konnte ihn nicht ausstehen. Diese Abneigung hätte keine Rolle gespielt, wenn O'Hale nicht als wohlberechneten Teil seiner Kampfweise ständig geflüstert hätte: »Du schmieriger Itaker . . . Warum kämpfst du nicht auf der anderen Seite, du Hurensohn? . . . Du jubelst doch, wenn sie unsere Schiffe versenken, kleiner Itaker?« Und ähnliche Freundlichkeiten. Patroni hatte diesen Trick als das durchschaut, was er war — einen Versuch, ihn aus der Ruhe zu bringen —, und ignorierte ihn, bis O'Hale schnell hintereinander bei ihm zwei Treffer in der Leistengegend landete, was der Schiedsrichter, der hinter ihm stand, nicht bemerkte.
Die Verbindung von Beleidigung, Fouls und quälenden Schmerzen versetzten Patroni in Wut, womit sein Gegner geredinet hatte. Worauf er nicht gefaßt war, das war ein so schneller, wilder und völlig unbarmherziger Angriff, unter dem O'Hale zusammenbrach und, nachdem er ausgezählt worden war, für tot erklärt wurde.
Patroni wurde von aller Schuld freigesprochen. Zwar hatte der Schiedsrichter die Tiefschläge nicht bemerkt, dafür aber andere am Ring. Und davon ganz abgesehen, hatte Patroni nichts anderes getan als das, was von ihm erwartet wurde: bis an die Grenzen seines Könnens und seiner Kraft gekämpft. Nur ihm selbst war bewußt, daß er sekundenlang zum Berserker, wahnsinnig geworden war. Für sich allein gewann er später die Einsicht, daß er sich auch dann nicht hätte beherrschen können, wenn er gewußt hätte, daß O'Hale sterben würde.
Am Ende verzichtete er auf die leere Geste, »die Handschuhe endgültig an den Nagel zu hängen«, wie es in Romanen im allgemeinen heißt. Er hatte weiter geboxt, im Ring seine vollen Kräfte eingesetzt, sich nicht zurückgehalten, aber Selbstbeherrschung geübt, um die haarscharfe Grenze zwischen Vernunft und berserkerhafter Wildheit nicht zu überschreiten. Er hatte dabei Erfolg, das wußte er, denn er wurde auf Proben gestellt, bei denen Vernunft mit der wilden Bestie in ihm kämpfen mußte — und die Vernunft siegte. Dann, und erst dann, gab Joe Patroni das Boxen für den Rest seines Lebens auf.
Aber daß er seine Wut beherrschen konnte, bedeutete nicht, daß er keiner Anfechtung ausgesetzt war. Als der Leutnant aus dem Bildfeld der Fernsehkamera zurückkam, stellte Patroni ihn hitzig zur Rede. »Damit haben Sie die Straße um zwanzig Minuten länger blockiert. Es hat zehn Minuten gedauert, die Abschleppwagen an die Stellen zu bringen, an denen sie stehen müssen. Es wird noch einmal zehn Minuten dauern, um sie wieder dorthin zu bringen.«