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Bei einem Gehirn ging das nicht.

Durch das einzige Fenster des Umkleideraums fiel genug Licht von den Scheinwerfern des Kontrollturms herein, daß Keith sehen konnte. Eigentlich brauchte er nichts zu sehen. Er saß auf einer der Holzbänke, die Sandwiches, die Natalie für ihn gemacht hatte, unangetastet neben sich. Er hielt nur den Schlüssel der O'Hagan Inn in der Hand und grübelte, sann über die Unfaßbarkeit des menschlichen Verstandes nach.

Der menschliche Verstand konnte ungeahnte Höhen erreichen, Dichtungen schaffen und Radargeräte, die Sixtinische Kapelle und die überschallschnelle Concorde. Aber das Gehirn — das Erinnerungen und Gewissensbisse speicherte — konnte auch terrorisieren, foltern, unermüdlich sein; und erst der Tod konnte seinen Verfolgungen ein Ende setzen.

Der Tod . . . im Nichts aufgehen, vergessen, endgültige Ruhe.

Aus diesem Grund hatte Keith Bakersfeld beschlossen, in dieser Nacht Selbstmord zu begehen.

Er mußte bald auf die Radarstation zurück. Noch hatte er einige Stunden Dienst vor sich, und er hatte mit sich selbst einen Pakt geschlossen, seine Schicht bei der Flugsicherung heute nacht bis zum Ende durchzuhalten. Er wußte nicht warum, nur, daß er es für richtig hielt, und er hatte immer gewissenhaft versucht, das Richtige zu tun. Vielleicht war Gewissenhaftigkeit ein Charaktermerkmal der Familie. Jedenfalls schienen er und sein Bruder Mel diese Eigenschaft zu teilen.

Wie dem auch sei, wenn der Dienst beendet, die letzte Pflicht erfüllt war, würde er frei sein, zur O'Hagan Inn zu gehen, wo er sich heute am späten Nachmittag angemeldet hatte. Sobald er dort war, würde er keine Zeit mehr verlieren und die vierzig Kapseln Nem-butal einnehmen — im ganzen drei Gramm —, die er in einer Me-dikamentenschachtel in der Tasche trug. Sie waren ihm verschrieben worden, damit er schlafen konnte, und von jeder Packung, die Natalie in der Apotheke besorgte, hatte er heimlich die Hälfte beiseite geschafft und gehortet. Vor wenigen Tagen erst war er in eine Bibliothek gegangen und hatte dort in einem Handbuch der klinischen Toxikologie nachgeschlagen, daß sein Vorrat an »Nembutal« weit über der tödlichen Dosis lag.

Seine gegenwärtige Schicht endete zwei Stunden nach Mitternacht. Bald darauf, nachdem er die Kapseln eingenommen hatte, würde schnell der Schlaf und mit ihm das unwiderrufliche Ende kommen.

Er sah auf seine Uhr, hielt ihr Zifferblatt in das von draußen hereinfallende Licht. Es war beinahe schon neun. Sollte er jetzt schon in den Radarraum zurückkehren? Nein — besser noch ein paar Minuten warten. Wenn er zurückging, wollte er ruhig und gefaßt sein, damit seine Nerven allem, was die letzten Dienststunden noch mit sich bringen konnten, gewachsen waren.

Keith Bakersfeld bewegte den Schlüssel wieder zwischen den Fingern: Zimmer 224.

Dieses Zusammentreffen der Zahlen war merkwürdig; daß seine Zimmernummer, die ihm zufällig für heute nacht zugewiesen worden war, eine »24« enthielt. Es gab Leute, die an solche Dinge glaubten: Numerologie, die okkulte Bedeutung von Zahlen. Keith hielt nichts davon, aber trotzdem konnte man die Zahl so deuten, daß die zweite und die dritte Ziffer mit der vorangehenden »2« bedeutete: zum zweitenmal 24.

Die erste 24 war ein Datum gewesen — vor anderthalb Jahren. Keiths Augen verschleierten sich, wie schon so oft, wenn er daran dachte. Dieses Datum war mit Selbstvorwürfen und Qualen in sein Gedächtnis eingebrannt. Es war der Ursprung seiner düsteren seelischen Verfassung, seiner äußersten Verzweiflung. Es war der Grund, weshalb er seinem Leben heute nacht ein Ende machen wollte.

Es war ein Sommermorgen gewesen: Donnerstag, der 24. Juni.

Es war ein Tag für Dichter, für Liebende und für Farbfotografen; ein Tag, den man für ewig im Gedächtnis behielt, um ihn wie ein Album aufzuschlagen, wenn man sich Jahre später an die besten Stunden und die schönsten Orte erinnern wollte. In Leesburg in Virginia, nicht weit von dem historischen Harpers Ferry entfernt, war der Himmel bei Tagesanbruch klar — CAVU hieß es im Wetterbericht, in der Fliegersprache eine Kurzformel für »Wolkenhöhe und Sicht unbegrenzt«. Und diese Wetterverhältnisse blieben bestehen, abgesehen von einigen verstreuten Kumuluswölkchen am Nachmittag, die wie Wattebäusche am Himmel hingen. Eine sanfte Brise von den Blue Ridge Mountains trug den Duft des Geißblatts herüber.

Keith Bakersfeld hatte an diesem Morgen, als er zu seiner Arbeit im Washington Air Route Traffic Control Center in Leesburg fuhr, wilde Rosen blühen sehen. Eine Zeile von Keats, die er auf der Schule gelernt hatte, ging ihm durch den Kopf: »For Summer has o'erbrimmed . . .« Sie schien auf einen solchen Tag zu passen.

Wie üblich hatte er die Grenze nach Virginia von Adamstown in Maryland, wo er mit Natalie und ihren beiden Jungen ein behagliches Haus bewohnte, überschritten. Das Verdeck seines VW-Ka-brioletts war heruntergeklappt. Er fuhr ohne Eile, genoß die Wohltaten von Luft und Sonne, und als die vertrauten flachen modernen Gebäude des Air Route Center in Sicht kamen, hatte er weniger Spannung empfunden als sonst. Später hatte er sich gefragt, ob das an sich schon die Ursache für die Ereignisse gewesen sei, die sich dann begaben.

Selbst in dem Arbeitsflügel — durch dessen dicke fensterlose Mauern nie ein Strahl des Tageslichts drang — hatte Keith den Eindruck, daß der Glanz des Sommertags draußen irgendwie hineingesickert sei. Unter den siebzig oder mehr Kontrollern im Dienst schien eine Heiterkeit zu herrschen, die im Gegensatz zu dem pflichtbewußten Ernst stand, mit dem die Arbeit an den meisten Tagen im Jahr verrichtet wurde. Vielleicht war die Tatsache, daß die Verkehrsbelastung infolge des außergewöhnlich klaren Wetters geringer war als üblich, ein Grund dafür. Viele nichtkommerzielle Flüge — Privatmaschinen, Militärflugzeuge, sogar einige Passagiermaschinen — flogen nach VFR, der Methode des Sehens und Gesehenwerdens, mit deren Hilfe die Piloten ihren Weg durch die Luft selbst beobachteten und verfolgten, ohne daß sie sich über Funk bei der Luftstraßen-Kontrolle der ATC melden mußten.

Das Washington Air Route Center in Leesburg war ein Hauptkontrollpunkt. Von seiner Zentrale aus wurde der gesamte Flugverkehr auf den Luftstraßen über den sechs östlichen Küstenstaaten beobachtet und gesteuert. Insgesamt umfaßte das Kontrollgebiet mehr als zehntausend Quadratmeilen. Jedes Flugzeug, das in diesem Gebiet von einem Flugplatz aufstieg und einen Instrumenten-flugplan eingereicht hatte, kam unter die Beobachtung und Kontrolle von Leesburg. Unter dieser Kontrolle blieb es, bis es seine Reise beendet hatte oder das Kontrollgebiet verließ. Maschinen, die in das Gebiet einflogen, wurden von anderen Kontrollzentren übergeben. In den Vereinigten Staaten bestanden insgesamt zwanzig dieser Zentren. Das in Leesburg gehörte zu den verkehrsreichsten und umfaßte das südliche Ende des »Nordostkorridors«, auf dem täglich der dichteste Flugverkehr der Welt herrscht.

Merkwürdigerweise lag Leesburg in weitem Abstand von jedem Flughafen und war von Washington, das dem Air Route Center seinen Namen gegeben hatte, vierzig Meilen entfernt. Das Zentrum selbst befand sich in Virginia — eine Ansammlung flacher moderner Gebäude mit einem Parkplatz — und war auf drei Seiten von wogenden Feldern umgeben. In der Nähe floß der kleine Fluß Bull Run vorbei, dessen Name durch den Ruhm zweier Schlachten aus dem Bürgerkrieg verewigt war: Nach seinem Dienst war Keith Bakersfeld einmal an den Bull Run gegangen und hatte über den merkwürdigen Gegensatz zwischen Leesburgs Vergangenheit und seiner Gegenwart nachgedacht.