»Ja, das hab ich, aber das meine ich nicht.«
»Dann kann ich es nicht erraten. Du mußt es mir schon sagen.«
»Also, in der Schule hat Miss Curzon uns die Hausaufgabe gestellt, alles aufzuschreiben, was wir im nächsten Monat an Schönem und Gutem erwarten.«
Liebevoll dachte er: Libbys Begeisterung ist verständlich. Für sie war fast alles aufregend und gut, und die wenigen Dinge, die es nicht waren, wurden beiseite gewischt und schnell vergessen. Er fragte sich, wie lange ihre glückliche Unschuld noch währen würde.
»Das ist hübsch«, sagte Mel. »Das gefällt mir.«
»Daddy, Daddy! Hilfst du mir?«
»Wenn ich kann.«
»Ich brauche eine Landkarte vom Februar.«
Mel lächelte. Libby hatte eine eigene Kurzsprache, die manchmal ausdrucksstärker schien als konventionelle Worte.
»In meinem Schreibtisch ist ein Kalender.« Mel erklärte ihr, wo sie ihn finden würde und hörte ihre kleinen Füße aus dem Zimmer laufen. Das Telefon war vergessen. Mel nahm an, daß es Roberta war, die wortlos einhängte.
Mel verließ sein Büro und trat auf die Galerie des Zwischenstocks hinaus, die das Empfangsgebäude des Flughafens der ganzen Länge nach durchlief. Den dicken Mantel trug er über dem Arm. Für einen Augenblick blieb er stehen und blickte, in die überfüllte Halle hinunter; in der letzten halben Stunde schien der Betrieb noch größer geworden zu sein. In den Wartehallen war jeder verfügbare Platz besetzt. Zeitungskioske und Informationsstände waren von Menschen umringt, unter ihnen viele in Uniform. Vor den Schaltern aller Fluggesellschaften standen Schlangen, von denen sich manche um die Ecken zogen. Das Personal hinter den Schaltern, um Kollegen früherer Schichten verstärkt, die Überstunden machten, hatte Flugpläne und Flugscheine wie Orchesterpartituren vor sich ausgebreitet.
Verzögerungen und Umleitungen, die der Schneesturm verursacht hatte, erschwerten die Abfertigung und stellten die menschliche Geduld auf harte Proben. Unmittelbar unter Mel, am Schalter der Braniff, protestierte ein jüngerer Mann mit langem blondem Haar und einem gelben Schal laut: »Sie haben die Stirn, mir zu sagen, daß ich nach Kansas City muß, um nach New Orleans zu kommen? Ihr werft hier ja die Geographie über den Haufen! Ihr seid ja besoffen von eurer Macht!«
Das Mädchen hinter dem Schalter, eine attraktive Brünette Mitte Zwanzig, strich sich mit der Hand über die Augen, ehe sie mit professioneller Geduld antwortete: »Wir können Sie für einen direkten Flug vorsehen, Sir, aber wir wissen nicht für wann. Infolge der Wetterverhältnisse ist der längere Weg schneller, und der Flugpreis bleibt der gleiche.«
Hinter dem Mann mit dem gelben Schal drängten sich andere Passagiere mit anderen Problemen.
Am Schalter der United spielte sich eine kleine Pantomime ab. Ein Passagier — ein gutgekleideter Geschäftsmann — neigte sich vor und sprach leise. Nach dem Ausdruck und dem Verhalten des Mannes konnte Mel Bakersfeld erraten, was gesagt wurde. »Ich würde größten Wert darauf legen, mit dem nächsten Flug mitzukommen.«
»Es tut mir leid, Sir. Die Maschine ist ausgebucht, und wir haben schon eine lange Warteliste . . .« Doch ehe der Angestellte der Fluggesellschaft seinen Satz beendet hatte, blickte er auf. Der Passagier hatte seine Aktentasche vor sich auf den Schalter gelegt. Ebenso unauffällig wie nachdrücklich klopfte er mit einem Kofferanhänger auf seine Aktentasche. Der Kofferanhänger war ein Abzeichen des 100 000-Meilen-Clubs, wie sie die United Airlines an ihre guten Kunden ausgab und damit, wie alle anderen Fluggesellschaften, eine Elite schuf. Die Haltung der Angestellten veränderte sich. Ihre Stimme wurde ebenso leise. »Ich glaube, wir können etwas arrangieren.« Ihr Bleistift zögerte noch einen Moment, strich dann den Namen eines anderen Passagiers, den sie für den Flug vorgesehen hatte, aus, und setzte den Namen des Neuankömmlings an dessen Stelle ein. Niemand in der Schlange hinter ihm hatte es bemerkt.
Mel wußte, daß das gleiche überall an allen Schaltern der Fluggesellschaften geschah. Nur Naive oder Nichtinformierte glaubten daran, daß Wartelisten oder Reservierungen mit unerschütterlicher Objektivität behandelt wurden.
Mel beobachtete eine Gruppe von Neuankömmlingen — vermutlich aus der Stadt —, die das Flughafengebäude betraten. Sie klopften Schnee von ihren Mänteln, während sie hereinkamen, und nach ihrer Erscheinung zu urteilen, schien sich das Wetter draußen zu verschlechtern. Die Neuankömmlinge wurden von der wartenden Menge schnell aufgesogen.
Wenige der etwa achtzigtausend Reisenden, die täglich durch das Flughafengebäude strömten, blickten je zur Etage der Verwaltung hinauf. Und noch weniger bemerkten heute abend Mel, der auf sie hinabblickte. Die meisten von ihnen stellten sich unter Flughäfen nichts anderes als Fluggesellschaften und Flugzeuge vor. Es war zweifelhaft, ob vielen von ihnen die Existenz eines Verwaltungsapparats überhaupt bewußt war — unsichtbar, aber vielschichtig, mit Hunderten von Angestellten —, der ständig arbeitete und den Flugplatz in Betrieb hielt.
Vielleicht ist das ganz gut, dachte Mel, während er mit dem Fahrstuhl weiter nach unten fuhr. Falls die Leute besser unterrichtet wären, würden sie mit der Zeit auch mehr über die Schwächen und Gefahren des Flughafens wissen und danach weniger beruhigt abfliegen und ankommen.
Durch den Hauptgang ging er auf den Flügel der Trans America zu. Dicht bei dem Anmeldeschalter hielt ein uniformierter Angestellter der Fluggesellschaft ihn an.
»Guten Abend, Mr. Bakersfeld. Suchen Sie Mrs. Livingston?«
Wie stark der Betrieb auf dem Flughafen auch war, dachte Mel, zum Klatsch blieb immer Zeit. Er fragte sich, wie weit sein Name mit dem von Tanya bereits in Verbindung gebracht wurde.
»Ja«, antwortete er, »das tue ich.«
Der Angestellte deutete mit dem Kopf auf eine Tür mit der Aufschrift: »Nur für Personal der Fluggesellschaft«.
»Sie finden sie da drin, Mr. Bakersfeld. Wir hatten hier einen kleinen Zwischenfall. Sie kümmert sich gerade darum.«
3
In dem kleinen Salon, der manchmal zum Empfang von VIPs benutzt wurde, schluchzte ein junges Mädchen in der Uniform einer Angestellten der Trans America hysterisch.
Tanya Livingston führte sie zu einem Sessel. »Fassen Sie sich erst einmal«, sagte Tanya nüchtern, »und lassen Sie sich Zeit. Danach wird Ihnen besser sein, und dann können wir miteinander reden.«
Tanya setzte sich selbst und strich ihren straffen, engen Uniformrock glatt. Sonst war niemand in dem Raum, und außer dem schwachen Summen der Klimaanlage hörte man nur das Schluchzen.
Zwischen den beiden Frauen bestand ein Altersunterschied von etwa fünfzehn Jahren. Das Mädchen war knapp über zwanzig und Tanya in der zweiten Hälfte der Dreißiger. Als Tanya sie ansah, empfand sie den Altersunterschied größer, als er war. Vermutlich kam es daher, dachte sie, daß sie verheiratet gewesen war. Wenn auch nur kurz und vor langer Zeit — wenigstens schien es ihr so.
Das ist das zweite Mal, daß mir heute mein Alter bewußt wird, dachte sie. Das erste Mal war es gewesen, als sie am Morgen ihr Haar kämmte. Sie hatte verräterische Strähnen in ihrem kurzgeschnittenen, flammend roten Haar entdeckt. Es war mehr Grau darin als vor einem Monat, und beide Male hatte es sie daran erinnert, daß die Vierzig — ein Alter, in dem eine Frau wissen sollte, was und warum sie etwas wollte — näher rückte, als ihr lieb war. Dann kam ihr ein anderer Gedanke: In fünfzehn Jähren war ihre eigene Tochter so alt wie das Mädchen, das jetzt vor ihr weinte.
Das Mädchen, es hieß Patsy Smith, wischte sich die geröteten Augen mit einem großen leinenen Taschentuch, das Tanya ihr gegeben hatte. Sie sprach mühsam, wobei sie weitere Tränen unterdrückte. »Zu Hause — so würden sie da nicht reden — so gemein und grob — mit ihren Frauen nicht . . .«