»Wie steht es mit Europa?«
»Nichts als Routine«, antwortete Mel, »abgesehen von Paris — der neue Flughafen im Norden, der Le Bourget ersetzen soll, wird einer der besten sein. London ist ein untaugliches Schlamassel, wie es nur die Engländer zustande bringen.« Er überlegte kurz. »Aber wir sollten nicht auf anderen Ländern herumreiten. Bei uns selbst ist es schlimm genug. New York ist angsterregend, trotz der Veränderung auf Kennedy Airport. Über New York ist einfach nicht genug Luftraum vorhanden; ich überlege, ob ich in Zukunft nicht mit dem Zug hinfahren soll. Washington quält sich verzweifelt — Washington National ist eine finstere Falle; Dulles war ein Riesenschritt in die falsche Richtung. Und Chicago wird eines Tages aufwachen und feststellen, daß es zwanzig Jahre hinter der Zeit herhinkt.« Wieder überlegte er. »Erinnern Sie sich an die Zeit vor ein paar Jahren, als die ersten Düsenflugzeuge kamen — wie die Zustände auf den Flugplätzen waren, die für die DC-4 und die Con-stellation angelegt worden waren?«
»Ich erinnere mich«, antwortete Tanya. »Ich habe auf einem gearbeitet. An normalen Tagen konnte man sich vor Menschenmassen nicht von der Stelle rühren, an Tagen mit Hochbetrieb konnte man nicht einmal atmen. Wir sagten immer, es sei so, als ob man die Olympischen Spiele in einem Sandkasten austragen würde.«
»Was nach 1970 kommt, wird schlimmer«, prophezeite Mel, »viel schlimmer, und nicht nur, weil wir an Menschen ersticken werden. Wir werden auch an anderen Dingen zu würgen haben.«
»An was zum Beispiel?«
»Einmal Flugrouten und Flugsicherung, aber das ist eine andere Geschichte. Das wirklich Große, womit sich die Flughafenplanung noch nicht befaßt hat, ist, daß wir auf den Tag zusteuern — und zwar schnell —, an dem der Luftfrachtverkehr größer sein wird als der Passagierverkehr. Das galt seit jeher für alle Transportarten, angefangen beim Birkenrindenkanu. Zunächst wurden Menschen transportiert und zusätzlich ein bißchen Fracht; aber es dauerte nie lange, dann war mehr Fracht vorhanden als Menschen. Im Luftverkehr sind wir diesem Stadium bereits viel näher, als allgemein bekannt ist. Wenn Fracht an die erste Stelle tritt — wie das in rund zehn Jahren der Fall sein wird —, sind eine Menge unserer gegenwärtigen Vorstellungen von Flughafen veraltet. Wenn Sie einen Wegweiser haben wollen, in welche Richtung sich alles bewegt, dann beobachten Sie einmal einige der jungen Leute, die jetzt in die Leitung der Luftverkehrsgesellschaften eintreten. Vor nicht allzulanger Zeit wollte kaum jemand in den Abteilungen für Luftfracht arbeiten; das war zweitrangig; das Passagiergeschäft allein hatte Glanz. So ist es nicht mehr! Die klugen jungen Leute wenden sich jetzt der Luftfracht zu. Sie wissen, wo die Zukunft und die großen Aufstiegsmöglichkeiten liegen.«
Tanya lachte. »Ich bleibe altmodisch und halte mich an die Menschen. Fracht ist irgendwie . . .« Eine Kellnerin trat an ihren Tisch. »Die Sperrstunde ist aufgehoben, und wenn wir heute abend hier noch viele Gäste bekommen, wird nicht viel übrig bleiben, was wir ihnen anbieten können.«
Sie bestellten Kaffee, Tanya einen Zimttoast dazu und Mel ein Sandwich mit Spiegelei.
Als die Kellnerin gegangen war, grinste Mel. »Ich glaube, ich habe angefangen, eine Rede zu halten. Entschuldigung.«
»Vielleicht müssen Sie mal wieder üben.« Sie sah ihn neugierig an. »In der letzten Zeit haben Sie das nicht mehr oft getan.«
»Ich bin nicht mehr Präsident des Airport Operator Council. Ich komme nicht mehr oft nach Washington und woandershin auch nicht.« Aber das war nicht der einzige Grund, weshalb er keine Reden mehr hielt und seltener öffentlich auftrat. Er vermutete, daß Tanya das wußte.
Seltsamerweise war es einer der Vorträge Mels gewesen, wodurch sie überhaupt bekannt geworden waren. Bei einer der wenigen gemeinsamen Tagungen, auf denen die verschiedenen Fluggesellschaften zusammenkamen, hatte er über die künftige Entwicklung der Luftfahrt gesprochen und das Hinterherhinken der Bodenorganisation mit den Fortschritten in der Luft verglichen. Er hatte die Veranstaltung benutzt, um einen Vortrag zu proben, den er etwa eine Woche später vor einem das ganze Land umfassenden Forum halten wollte. Tanya hatte der Delegation der Trans America angehört, und am nächsten Tag hatte sie ihm eine ihrer Notizen zugeschickt: mr. b rede großartig, wir erdgebundenen sklaven preisen sie für eingeständnis, daß schöpf er der luftfahrtpolitik an Zeichenbrettern schlafen. das mußte mal gesagt werden, ein vorschlag gefällig? wäre viel lebendiger, wenn weniger fakten, mehr leute . . . wenn passagiere erst im bauch (flugzeug oder wal, erinnere an jonas) denken nur an sich, nicht an System. wette daß orville/ wilbur das gleiche dachten, sobald aufgestiegen. stimmts? tl
Die Notiz hatte ihn nicht nur amüsiert, sondern auch nachdenklich gemacht. Es traf zu — er hatte sich auf Fakten und Systeme konzentriert und darüber die Menschen als Individuen vernachlässigt. Er überprüfte die Notizen zu seinem Vortrag noch einmal und verlagerte das Gewicht so, wie Tanya es angeregt hatte. Das Ergebnis war der erfolgreichste Vortrag, den er je gehalten hatte. Er trug ihm einen Beifallssturm ein, und auf internationaler Ebene wurde ausführlich darüber berichtet. Nachher hatte er Tanya angerufen, um sich bei ihr zu bedanken. Seitdem waren sie öfter zusammengekommen.
Der Gedanke an Tanyas erste Notiz erinnerte ihn an jene, die sie ihm heute abend geschickt hatte. »Für den Tip über den Bericht des Schneeausschusses bin ich Ihnen dankbar, obwohl es mich interessieren würde, wie es Ihnen gelungen ist, ihn vor mir zu Gesicht zu bekommen.«
»Kein Geheimnis. Er wurde im Büro der Trans America getippt. Ich habe gesehen, wie Kapitän Demerest ihn durchsah und darüber frohlockte.«
»Vernon hat Ihnen den Bericht gezeigt?«
»Nein, aber er hatte ihn ausgebreitet, und ich bin geübt, Texte, die auf dem Kopf stehen, zu lesen. Wobei mir einfällt, daß Sie meine Frage nicht beantwortet haben: Was hat Ihr Schwager eigentlich gegen Sie?«
Mel schnitt eine Grimasse. »Wahrscheinlich weiß er, daß ich nicht besonders viel für ihn übrig habe.«
»Wenn Sie ihm das mal sagen wollen, können Sie es jetzt tun«, sagte Tanya. »Da ist der große Mann persönlich.« Sie deutete mit dem Kopf zur Kasse, und Mel wandte sich um.
Kapitän Vernon Demerest von der Trans America zählte das Wechselgeld, nachdem er seine Rechnung bezahlt hatte. Er war eine große, breitschultrige, auffallende Erscheinung, die alle anderen um ihn herum überragte. Er war leger in eine Harris-Tweedjacke und eine makellos gebügelte Hose gekleidet, aber dennoch gelang es ihm, den Eindruck von Autorität um sich zu verbreiten — wie ein hoher General, der vorübergehend Zivil trägt, dachte Mel. Deme-rests festes, aristokratisches Gesicht lächelte nicht, als er sich an einen Kapitän der Trans America in Uniform mit vier Streifen am Ärmel wandte, der ihn begleitete. Anscheinend erteilte Demerest Anweisungen, denn der andere nickte. Kapitän Demerest sah sich kurz in der Kaffeestube um, bemerkte Mel und Tanya und grüßte mit einem knappen kühlen Nicken. Dann blickte er auf seine Uhr und ging nach einem letzten Wort an den anderen Kapitän hinaus.
»Anscheinend hat er Eile«, sagte Tanya. »Aber was er auch vorhat, er hat nicht viel Zeit. Kapitän D. nimmt heute abend den Flug Zwei nach Rom.«
Mel lächelte. »The Golden Argosy?«
»Nichts Geringeres. Aber wie ich sehe, Sir: Sie lesen unsere Anzeigen.«
»Dem kann man sich nur schwer entziehen.« Mel wußte, wie Millionen andere Leute, die die doppelseitigen Vierfarbenanzeigen in Life, Look, Good House-keeping, der Saturday Evening Post und anderen großen Zeitschriften bewunderten, daß Flug Zwei der Trans America — The Golden Argosy — der Spitzenprestigeflug der Gesellschaft war. Er wußte auch, daß nur die erfahrensten Flugkapitäne der Gesellschaft die Maschinen auf diesem Flug steuerten.