«Ich habe nichts gesehen, Doc!«sagte Nicholson unerbittlich.
«Und das beruhigt Ihr Gewissen?«
«Wer fragt nach meinem Gewissen?«
«Ihre zweite Stimme, die bessere in Ihnen!«Dr. Blandy drückte auf einen Knopf, es war zufällig der richtige. Das Sehrohr fuhr aus. Nicholson hinderte ihn nicht daran. Dr. Blandy suchte wieder den orangefarbenen Punkt in den Wellenbergen, dann hatte er ihn im Fadenkreuz und starrte ihn an.
«Einwandfrei eine Rettungsinsel. Geschlossen! Man kann sie deutlich erkennen. Sie treibt auf uns zu.«
«Laienhaft ausgedrückt. Ich lasse gleich auf zweihundert Fuß fluten… auch eine Kurskorrektur um ein paar Grad schadet nicht.«
«Sie laufen sich nicht davon, Jack!«Dr. Blandy gab das Sehrohr frei und zeigte auf das Okular. Nicholson schüttelte den Kopf wie ein unartiger Junge.»Auf der Spitze des Segeldaches brennt die rote Notlampe! SOS, Commander! SOS! Rettet unsere Seelen! Ich weiß, wie knallhart Sie sind… aber das bleibt in Ihrem Blut, Jack! Das zerfrißt Sie eines Tages langsam wie Säure: Ich habe mit klarem Verstand Menschen in Not verrecken lassen. Verdammt, fragen Sie den Admiral.«
«Doc, die Antwort des Admirals kennen Sie doch im voraus! Unter Wasser bleiben!«
«Was seid ihr bloß für Menschen!«Dr. Blandy hieb gegen das Gestänge des Sehrohres und dann gegen die Wand des Turms.»Was ich in Vietnam noch verdrängte, bringen Sie mir jetzt bei: Ich beginne euch Militärs zu hassen!«
«Sie tragen auch die Uniform, Herr Marine-Oberarzt.«
«Wenn Sie's sehen wollen, Jack… ich zieh sie aus und lasse sie durch den Lokus absaufen.«
Nicholson stand auf, ging zum Sehrohr und blickte nach oben. Die Rettungsinsel war jetzt so deutlich, daß er das Zucken der roten Notruflampe und das geschlossene, sich im Wind immer wieder blähende
Dach erkennen konnte. Das unsinkbare, mit Preßluft aufgeblasene Nylonding hüpfte über die Wellenkämme und trieb auf die viel trägeren Eisschollen zu. Dann wurde es kritisch. Eisschollen können messerscharfe Kanten haben, die bei einem Zusammenprall die Luftkammern der Rettungsinsel aufschlitzten.
Commander Nicholson fuhr das Sehrohr ein. Dann drückte er auf einen Knopf im Schaltpult vor sich und betätigte den Hebel der Sprechanlage. Chief Engineer McLaren und Chief Navigator Collins sowie Oberleutnant Cornell und Leutnant Curtis waren in Konferenzschaltung gemeinsam zu hören.
«Alles fertigmachen zum Auftauchen!«sagte Nicholson ruhig.»Irgendwelche Fragen in den Abteilungen?«
«Nein, Sir.«, antworteten vier Stimmen im Chor.
Alsbald klingelten im ganzen Boot die Signale. Selbst wer bis jetzt geschlafen hatte, zuckte hoch und rutschte aus seinem Bett. Gibt es denn so etwas? Träumen wir? Ist der Alte verrückt geworden?
Auftauchen? Wirklich auftauchen? Die Sonne sehen, einen Himmel, einen Horizont? Frische Luft einsaugen? Köstliche, reine Meeresluft?
«Dem Alten küß ich die Hämorrhoiden!«brüllte Jimmy Porter, als das Geklingel ihn in die Seele traf wie ein heißer Weiberkuß.»Er läßt auftauchen! Boys, laßt uns dem Eisenkopp alles bisherige verzeihen. Wir tauchen auf!«
In die Fluttanks der POSEIDON I zischte der Gegendruck und trieb das Wasser hinaus. Die Lenzpumpen arbeiteten, das für einen Laien ewig ein Geheimnis bleibende Zusammenspiel aller elektronischen und computergesteuerten Mechanismen funktionierte reibungslos. McLaren schnalzte mit der Zunge. Kinder, ist das ein Schatz von einem Boot! Es läßt sich über und unter Wasser dirigieren wie ein Spielzeugauto.
Der Turm durchstieß die Meeresoberfläche, dann folgte der schlanke, graue, stählerne Leib. Ein schönes Ungeheuer schwamm auf der rauschenden See.
Commander Nicholson und Dr. Blandy öffneten das Luk. Die Sonne schien in den Turm. Sie schlug Oberleutnant Cornell beinahe wie ein Hammer gegen die Stirn.
«Erlaubnis zum Betreten der Brücke!«rief er zu Nicholson hinauf. Hinter ihm warteten die anderen Offiziere. Ihr Chor klang hohl im Turmschacht.
«Erlaubnis zum Betreten der Brücke.«
«Kommt rauf!«sagte Nicholson fast milde. Er lehnte sich gegen die hohe Bordwand und starrte auf die tanzende Rettungsinsel. Sie war nur noch fünfzig Meter von ihnen entfernt.»Seht euch das an!«Und dann, zu Dr. Blandy gewandt, sagte er leise:»Zufrieden mit mir, Doc?«
«Halb, Jack! Das Problem fängt erst an! Nehmen wir die Überlebenden an Bord?«
«Nein!«
Eine klare Antwort. Dr. Blandy schob die Mütze in den Nacken. Wie konnte ich Rindvieh von Arzt ein solches Kommando annehmen, dachte er.
Die Offiziere stürzten auf die Plattform des Turmes. Im Boot alarmierten die Telefone die einzelnen Abteilungschefs. Dürfen wir auch hinaus? Heißt es endlich Luken auf?
«Draußen scheint die Sonne«, stammelte der kleine Paolo Belucci und weinte fast vor Freude.»Die Sonne! O Mama, wie liebe ich die Sonne.«
Die Offiziere starrten stumm auf die Nyloninsel. Plötzlich war die Sonne kalt, der Tag irgendwie trübe, obgleich das Meer glänzte. Einer dachte wie der andere, und keiner beneidete jetzt Commander Nicholson. Allein schon das Auftauchen aus diesem Anlaß war ein Geheimnisverrat. Die Offiziere schielten zu Nicholson und schwiegen.
«Geben Sie die kleine Kurskorrektur durch, Curtis«, sagte Nicholson ruhig.»Wir gehen längsseits mit dem Floß.«
«Aye, aye, Sir!«Leutnant Curtis gab es an die Zentrale weiter. Von unten kam die Stimme von Collins.
«Ich habe im Radar ein rundes Ding. Ganz nah. Was ist das?«
«Mein Gewissen!«antwortete Nicholson.»Collins, kommen Sie auf die Brücke. Ich bin so gemein, einen Haufen Mitwisser und Mitschuldige um mich zu versammeln.«
Ganz langsam und geschmeidig wie eine schöne Frau über ein seidenweiches Bett zu ihrem Liebsten gleitet, glitt die POSEIDON I durch das Meer und erreichte die kleine Rettungsinsel.
«Maschinen stop!«rief Bernie Cornell.»Zehn Mann an Deck zum Einholen!«
Die Sonne glänzte auf der Nylonhaut des Floßes. Das rote Lämpchen auf dem geschlossenen Dach zuckte und rief um Hilfe. Um den oberen Luftkörper lief in schwarzen Buchstaben eine Schrift. Der Name des Schiffes, das gesunken war.
La Belle Marie, las Dr. Blandy und sah Nicholson mit zusammengekniffenen Brauen an.»Das klingt nicht nach einem normalen Kahn.«
Der Commander schwieg. Er kletterte die Treppenleiter vom Turm herab und ging mit staksigen Beinen über Deck zur Seite, wo die Rettungsinsel gegen das Boot klatschte. Aus dem Deckluk quollen zehn Mann, an der Spitze die bullige Gestalt von Jimmy Porter. Ihm folgte Bill Slingman mit bloßem Oberkörper. Auf seiner schwarzen Haut und auf seinen Muskelbergen stand der Schweiß, der in der Sonne wie Tau glitzerte.
«Um das klarzustellen«, sagte Dr. Blandy zu den Offizieren auf dem Turm.»Ich habe dem Commander zugeredet, es zu tun. Ich übernehme auch die Verantwortung. Gehen wir, meine Herren.«
Sie kletterten von der Brücke und liefen Nicholson nach. Verantwortung! Keiner konnte sie Nicholson abnehmen. Er war der Kommandant — nicht Dr. Blandy. Aber man sagt eben manchmal in der Erregung den reinsten Quatsch.
Mit vier Enterhaken zog man die kleine Rettungsinsel heran und hielt sie fest. Der wendige Belucci kletterte hinüber und zog den Reißverschluß des Einstiegs auf.
Er schaute hinein. Er stieß einen Schrei aus, als habe man ihm den Bauch aufgeschlitzt. Dann fiel er rücklings ins Meer.
Kapitel 2
Commander Nicholson stand breitbeinig auf Deck und sah hinunter zu dem im eisigen Wasser herumpaddelnden Belucci. Bill Slingman warf ihm eine Leine zu. Der kleine Italiener ergriff sie und ließ sich wieder aufs Boot ziehen. Hinter Nicholson schnaufte Dr. Blandy durch die Nase wie ein Walroß.
Belucci stand auf Deck, zitternd vor Kälte starrte er auf die sonderbare Insel und wischte sich mit beiden Händen immer wieder über das triefende Gesicht.»Ziehen Sie sich um, Sie Idiot!«brüllte Dr. Blandy.»Wollen Sie sich eine Lungenentzündung holen? Und so etwas gehört zur Elite! Fällt um, wenn er Schiffbrüchige sieht.«