«Dann will ich ihnen was zu fressen geben, damit sie nicht hungern, während wir weg sind. Vergiß nicht, etwas Birkenrinde und ein Licht mitzunehmen.«
Kurz öffnete die Tür, spürte die beißende Kälte und zog sich schnell wieder zurück, um die Ohrenklappen festzubinden und die Fäustlinge anzuziehen.
Fünf Minuten später kam er wieder. Er rieb sich mit großer Energie die Nase.
«Du, Kid, ich bin sehr gegen dieses Wettrennen. Es ist kälter heute als die Türangeln der Hölle vor tausend Jahren, ehe das erste Feuer angezündet wurde. Außerdem ist heute Freitag, der Dreizehnte, und wir werden nur Pech haben, so sicher, wie Funken nach oben fliegen.«
Mit kleinen Goldgräberbündeln auf dem Rücken schlossen sie die Tür hinter sich und rutschten den Hügel hinab. Die strahlende Pracht des Nordlichts war schon erloschen — nur die Sterne zitterten in der eisigen Kälte am Himmel, und ihr unsicherer Schein stellte den Füßen der Wanderer Fallen.
Bei einer Wegbiegung strauchelte Kurz in dem tiefen Schnee, und das gab ihm Anlaß, seine Stimme zu erheben und den Tag samt Woche, Monat und Jahr in gutgewählten Worten zu segnen.
«Kannst du denn nicht den Mund halten?«zischelte Kid.»Laß doch den Kalender in Ruhe. Du weckst ja ganz Dawson, so daß sie alle hinter uns herkommen.«
«So, das meinst du? Siehst du das Licht in der Hütte dort? Und in der andern da drüben? Und hörst du die Tür dort knallen? Oh, ganz Dawson schläft, da ist gar kein Zweifel möglich! Die Lichter da? Alles natürlich nur Leute, die ihre toten Tanten begraben! Nichts liegt ihnen ferner, als auf die Goldsuche zu gehen. Ich wette mein Leben, daß sie gar nicht daran denken.«
Als sie den Fuß des Hügels erreichten und mitten in Dawson waren, blitzte Licht in allen Hütten auf, Türen wurden zugeworfen, und hinter sich hörten sie das schlurfende Geräusch vieler Mokassins auf dem hartgetretenen Schnee.
Kurz gab gleich seine Meinung zum besten.
«Aber der Teufel mag wissen, wo plötzlich all die trauernden Verwandten herkommen!«
Sie gingen an einem Mann vorbei, der am Wege stand und mit leiser Stimme vorsichtig rief:»Charley, Charley, mach ein bißchen dalli.«
«Siehst du das Bündel auf seinem Rücken, Kid? Der Friedhof muß verflucht weit weg liegen, daß die Trauernden ihre Bettdecke mitschleppen müssen.«
Als sie die Hauptstraße erreichten, waren mindestens hundert Mann in einer langen Reihe hinter ihnen her, und als sie in dem trügerischen Sternenlicht den Weg zum Fluß hinab suchten, hörten sie, daß noch mehr Leute sich hinten anschlossen. Kurz glitt aus und rutschte den dreißig Fuß hohen Abhang durch den tiefen Schnee hinunter.
Kid folgte ihm freiwillig und warf ihn um, als er gerade wieder aufstand.
«Ich habe den Weg zuerst gefunden«, fauchte Kurz und zog die Handschuhe aus, um den Schnee aus den Stulpen zu schütteln.
Im nächsten Augenblick mußten sie wie die Wilden durch den Schnee kriechen, um nicht mit den vielen, die ihnen folgten, zusammenzustoßen.
Als der Fluß seinerzeit zugefroren war, hatte sich hier Packeis angesammelt, und überall lagen in wilder Verwirrung Eisschollen, die der frische Schnee verbarg.
Als beide mehrmals gestürzt waren und sich tüchtig geschlagen hatten, zog Kid sein Licht hervor und zündete es an. Die Leute hinter ihnen gaben ihren Beifall durch laute Zurufe kund. In der windstillen Luft brannte die Kerze ganz klar, und es war jetzt tatsächlich leichter, den Weg zu finden.
«Es ist wahrhaftig das reine Wettrennen«, stellte Kurz fest.»Oder meinst du vielleicht, daß es lauter Schlafwandler sind?«
«Wir befinden uns jedenfalls an der Spitze der ganzen Kolonne«, antwortete Kid.
«Da bin ich nun nicht ganz so sicher. Vielleicht ist es nur eine Feuerfliege da vorn. Vielleicht sind es lauter Feuerfliegen, die da — und die dort. Guck sie dir nur an! Glaub mir, es ist eine ganze Reihe da vorn.«
Der Weg nach der andern Seite des Yukon führte eine ganze Meile weit über das Packeis, und überall auf dieser ganzen weiten gewundenen Strecke flammten Kerzen auf. Und hinter ihnen flammten noch mehr Lichter den Fluß entlang bis zu den Uferhängen.
«Weißt du, Kid, das ist schon kein Wettrennen mehr, das ist ja wie der Auszug aus Ägypten. Es müssen mindestens tausend vor uns und tausend hinter uns sein. Jetzt solltest du auch mal den guten Rat deines alten Onkels hören! Meine Medizin ist gut. Wenn ich eine Vorahnung bekomme, dann stimmt sie immer. Und meine Vorahnung sagt mir, daß wir bei diesem Wettrennen Pech haben werden. Laß uns ruhig umkehren und weiterpennen.«
«Spar dir lieber deine Puste, wenn du durchhalten willst«, knurrte Kid mürrisch.
«Uha, uha! Meine Beine sind freilich etwas kurz geraten, aber ich schleiche so besonnen mit schlappen Knien, ohne meine Muskeln zu überanstrengen, und ich bin todsicher, daß ich noch jeden Schnelläufer hier überholen kann.«
Und Kid wußte, daß Kurz recht hatte, denn er hatte schon längst die einzig dastehenden Fähigkeiten seines Kameraden im Marschieren kennengelernt.
«Ich habe mich ja auch nur zurückgehalten, um dir eine Chance zu geben«, neckte ihn Kid.
«Und ich laufe hier und trete dir auf die Hacken. Wenn du es nicht besser kannst, muß du mich lieber vorangehen und das Tempo angeben lassen.«
Kid erhöhte die Schnelligkeit und hatte bald den nächsten Haufen der Wettläufer eingeholt.
«Mach jetzt ein bißchen schnell, Kid«, drängte sein Kamerad.»Laß die Toten liegen. Es ist ja kein Leichenbegängnis. Hau die Füße tüchtig in den Schnee, als wären es Pflastersteine.«
Kid zählte acht Männer und zwei Frauen in dieser Gruppe, aber noch ehe sie das Packeis hinter sich hatten, überholten sie schon die zweite Gruppe, die aus zwanzig Männern bestand. Wenige Fuß von dem Westufer schwenkte der Weg nach Süden ab, und das Packeis wurde durch ein glattes Eisfeld ersetzt, das jedoch von frischem, mehrere Fuß hohem Schnee bedeckt war. Durch diesen Schnee lief die Schlittenbahn, ein schmales Band, knapp zwei Fuß breit, wo der Schnee von den vielen Füßen festgestampft war. Zu beiden Seiten dieses Pfades sank man bis zu den Knien oder noch tiefer ein.
Die Wettläufer, die von ihnen überholt wurden, waren nicht sehr geneigt, ihnen Platz zu machen, und Kid und Kurz mußten deshalb stets in den tiefen Schnee hinauswaten und konnten nur unter ungeheuren Anstrengungen vorbeigelangen.
Kurz war ebenso unüberwindlich wie pessimistisch. Wenn die Goldsucher schimpften, weil sie überholt wurden, antwortete er ihnen in derselben Tonart.
«Warum habt ihr es denn so eilig?«fragte einer.
«Warum ihr?«gab er zurück.»Gestern nachmittag ist eine ganze Bande von Goldsuchern vom Indianerfluß gekommen und hat euch den Rahm abgeschöpft. Es gibt keine Claims mehr.«
«Wenn das wahr ist, dann möchte ich wissen, warum ihr es so eilig habt?«
«Wer, wir? Ich suche gar kein Gold. Ich stehe im Dienst der Regierung. Ich bin in amtlichem Auftrag hier. Ich soll am Squawfluß eine Volkszählung abhalten.«
Und als ein anderer ihn mit den Worten begrüßte:»Wo willst du denn hin, Kleiner? Glaubst du wirklich, daß noch Platz für dich im Wagen ist?«, antwortete er:»Für mich? Ich bin doch der Entdecker der Goldminen am Squawbach. Ich habe eben in Dawson meine Mutung eintragen lassen, damit mir kein Chechaquo die Claims wegnimmt.«