Der oberste Mittelpfahl wurde unmittelbar am Rande des Uferhanges eingerammt, und dann wälzten sich die Läufer den Hang hinab, über das gefrorene Flußbett und das andere Ufer hinauf. Als Kid hier herumkroch, packte ihn eine Hand am Fußgelenk und zog ihn zurück. Im flackernden Schein des fernen Feuers konnte er das Gesicht des Mannes nicht sehen, der ihm diesen Streich gespielt hatte. Aber Arizona-Bill, dem dasselbe geschehen war, stand auf und versetzte dem Angreifer einen Faustschlag ins Gesicht. Kid sah und hörte das, während er sich noch bemühte, auf die Beine zu kommen, aber im selben Augenblick bekam er selbst einen Faustschlag, so daß er halb bewußtlos in den Schnee taumelte. Er kam jedoch wieder hoch und merkte sich den Mann, der es getan hatte.
Er hob schon die Faust, um ihm eins auszuwischen, als er sich der Warnung Kurz' erinnerte und sich beherrschte.
Im nächsten Augenblick wurde er aber unterhalb des Knies von einem Körper getroffen, der gegen ihn fiel, und stürzte wieder zu Boden.
Das gab ihm einen Vorgeschmack von dem, was geschehen sollte, wenn die Männer ihre Schlitten erreichten. Immer wieder strömten Leute vom andern Ufer herbei und stürzten sich ins Getümmel. Haufenweise kletterten sie den Hang herauf, und haufenweise wurden sie von ihren ungeduldigen Nebenbuhlern zurückgezerrt. Es fielen viele Schläge, unzählige Flüche entstiegen dem Klumpen keuchender Männer, die noch so viel Luft hatten, daß sie etwas entbehren konnten, während Kid, der seltsamerweise das Gefühl hatte, als schwebte Joys Gesicht immer vor seinen Augen, von ganzem Herzen hoffte, daß die Hämmer nicht als Kampfwaffen benutzt werden würden. Ein Mal über das andere wurde er umgestoßen, mit Füßen getreten, oft mußte er im tiefen Schnee nach den Pflöcken suchen, aber schließlich gelang es ihm, aus dem Knäuel herauszukommen, so daß er den Hang etwas weiter abwärts erklettern konnte. Freilich taten viele dasselbe, und es war ihm nicht möglich zu verhindern, daß ihn viele bei dem Rennen um die nordwestliche Ecke überholten.
Als er die Hälfte des Weges nach der vierten Ecke hinter sich hatte, stellte ihm jemand ein Bein, er flog weit hin und verlor seinen letzten Pflock. Mindestens fünf Minuten suchte er im Dunkeln, bis er ihn wiedergefunden hatte, und während dieser ganzen Zeit hasteten die keuchenden Männer an ihm vorbei. Aber von der letzten Ecke bis zum Bach begann er mehrere zu überholen, denen das Rennen über eine Meile doch zuviel gewesen war. Unten auf dem Bach selbst herrschte das wildeste Tohuwabohu. Ein Dutzend Schlitten waren ineinandergefahren und umgekippt, und fast hundert Hunde befanden sich in einer wilden Keilerei. Dazwischen bemühten sich Männer, die ineinander verstrickten Tiere wieder aus dem verworrenen Haufen zu ziehen, und schlugen mit ihren Hämmern auf sie los. Kid sah es nur flüchtig, im Vorbeilaufen, aber er fragte sich, ob Dore je ein Bild von einer ähnlichen grotesken Unheimlichkeit gezeichnet hätte.
Er sprang von der überfüllten Straße den Abhang ein Stück hinunter und erreichte die festgetretene Schlittenbahn, wo er schneller laufen konnte. Hier war der Schnee neben dem Wege an zahlreichen Stellen festgestampft, und auf den Lagerplätzen standen Schlitten und Männer und warteten auf die Wettläufer, die noch nicht abgefahren waren. Hinter sich hörte Kid das Heulen und Stampfen laufender Hunde und hatte eben noch Zeit, in den tiefen Schnee neben dem Wege zu springen, als der Schlitten schon vorbeihuschte; er konnte den Mann sehen, der, auf den Knien liegend, die Hunde wie ein Rasender anfeuerte. Aber kaum war der Schlitten vorbei, als er mitten in einem wilden Kampfgetümmel steckenblieb. Die aufgeregten Hunde eines anderen Schlittens, die neben dem Wege warteten und eifersüchtig auf die Tiere waren, die vorbeiliefen, hatten sich losgerissen und waren auf sie losgesprungen.
Kid bog um sie herum und schlüpfte glücklich vorbei. Er konnte die grüne Laterne von Schroeder und daneben das rote Licht sehen, das sein eigenes Gespann kenntlich machte. Zwei Männer überwachten das Gespann von Schroeder und streckten große Knüppel abwehrend vor sich aus.
«Hierher, Kid, hierher!«hörte er Kurz ängstlich rufen.
«Ich komme schon«, keuchte er zurück.
Bei dem roten Schein sah er, daß der Schnee aufgewühlt und voller Fußstapfen war, und aus der Art, wie sein Freund keuchte, konnte er schließen, daß es einen schweren Kampf gegeben hatte.
Er taumelte zum Schlitten, und im selben Augenblick, da er sich hinwarf, knallte Kurz mit der Peitsche und rief:»Hü, ihr Deubel, hü!«
Die Hunde sprangen in die Sielen, und mit einem Ruck glitt der Schlitten fort. Es waren große Tiere — Hansons Preisgespann von der Hudson Bay — , und Kid hatte sie für die erste Strecke, die zehn Meilen des Monobachs, dann den sehr ungangbaren Richtweg über die Ebene an der Mündung und endlich die ersten zehn Meilen am Yukon gewählt.
«Wie viele sind uns voraus?«fragte er.
«Schnauze halten und Puste sparen«, antwortete Kurz.»Hü, ihr Bestien, hü, zum Teufel, hü!«
Er lief hinter dem Schlitten her, durch ein kurzes Seil daran festgebunden. Kid konnte weder ihn noch den Schlitten, auf dem er lag, sehen. Die Feuer verschwanden schon weit hinter ihnen, und sie sausten, so schnell die Hunde laufen konnten, durch eine Mauer von schwarzer Dunkelheit dahin. Diese Finsternis war fast klebrig; sie war zu einer festen Materie geworden.
In einer scharfen Kurve merkte Kid, wie der Schlitten nach der Seite kippte und nur auf einer Kufe lief; von vorne hörte er das Fauchen von Tieren und die Flüche streitender Männer. Später wurde diese Episode die» Barnes-Slocum-Kollision «genannt. Es waren nämlich die Gespanne dieser beiden, die zuerst ineinanderfuhren, und in sie sausten dann Kids sieben große Kampfhunde in voller Fahrt hinein. Sie waren kaum etwas anderes als halbgezähmte Wölfe, und die Aufregung der Nacht am Klondike hatte schon in allen Tieren die Kampflust erweckt. Die Klondike-Hunde werden ohne Zügel gefahren, können also nur durch Zurufe angehalten werden. Es war daher ganz unmöglich, dem wilden Kampfgetümmel in der Enge des Bachbetts ein Ende zu machen. Hinter ihnen kamen Schlitten auf Schlitten und sausten in das Chaos hinein. Männer, die ihre Gespanne schon aus dem Knäuel befreit hatten, wurden von neuen Lawinen ankommender Schlitten überrannt. Und dabei waren all diese Hunde wohlgenährt, gut ausgeruht und kampflustig.
«Hier gibt es nur eins: losschlagen, sich hinaushauen und durchstoßen«, heulte Kurz seinem Kameraden ins Ohr.»Und paß gut auf deine Hände auf! Das Dreschen überlaß mir.«
Kid wußte später nie genau, was eigentlich in der nächsten halben Stunde geschah. Aber schließlich tauchte er doch aus dem Knäuel auf, völlig erschöpft und nach Luft schnappend. Das Kinn schmerzte von einem Fausthieb, die eine Schulter war von einem Hammerschlag zerquetscht, das Blut lief in einem warmen Strom über sein Bein, das von den Fängen eines Hundes verwundet worden war. Beide Ärmel seiner Parka waren zerfetzt. Wie im Traume half er Kurz die Hunde wieder anzuschirren, während die Schlacht hinter ihnen weitertobte. Einen sterbenden Hund schnitten sie aus den Strängen und bemühten sich eifrig in der Dunkelheit, das zerrissene Geschirr wieder instand zu setzen.
«Jetzt legst du dich hin und sorgst dafür, daß du wieder Luft kriegst«, befahl Kurz.
Und dann sausten die Hunde wieder durch die dunkle Nacht. Ihre Kräfte waren noch frisch und unverbraucht, und so liefen sie schnell den Monobach hinab und schlugen die Richtung nach dem Yukon ein. Hier, wo sie wieder die ausgefahrene Schlittenbahn erreichten, hatte irgend jemand ein Feuer angezündet, und hier verabschiedete sich auch Kurz von Kid. Und hier, beim Schein des flackernden Feuers, hatte Kid wieder ein unvergeßliches Bild aus dem Lande des Nordens, als der Schlitten hinter den weiterstürmenden Hunden dahinglitt. Es war das Bild seines Kameraden, der wankend dastand, bis er in den Schnee sank.