Er sah sie an und stand schnell auf.»Es war gar kein Sack — es war mein Ellenbogen. Verzeihen Sie bitte.«
Diese Berichtigung störte sie nicht im geringsten, und der kühle Empfang wirkte wie eine Herausforderung.
«Noch ein Glück, daß Sie nicht den Ofen umgeworfen haben«, sagte sie.
Er folgte ihrem Blick und bemerkte einen eisernen Ofen und darauf eine Kaffeekanne, die eine junge Indianerin überwachte.
Er sog den Kaffeegeruch ein und wandte sich wieder zu dem Mädchen.
«Ich bin ein Chechaquo«, sagte er.
Ihr gelangweilter Blick zeigte ihm, daß es offenbar überflüssig gewesen war, das in Worten festzustellen. Er war indessen nicht kleinzukriegen.
«Ich habe mein Schießeisen schon weggeworfen«, fügte er hinzu.
Jetzt erst erkannte sie ihn wieder, und ihre Augen wurden etwas lebhafter.
«Ich hätte nie gedacht, daß Sie so weit kommen würden«, teilte sie ihm freundlich mit.
Er sog wieder den Kaffeeduft ein, diesmal mit sichtbarer Gier.
«So wahr ich lebe… Kaffee!«Er drehte sich um und redete sie direkt an.»Ich gebe Ihnen meinen kleinen Finger, ich haue ihn mir auf der Stelle ab, ich tue, was Sie wollen, ich werde Ihr Sklave für ein Jahr und einen Tag sein oder für jeden anderen blöden Zeitraum, wenn Sie mir eine einzige winzige Tasse aus dem Pott da geben wollen.«
Und als sie beim Kaffee saßen, nannte er ihr seinen Namen und erfuhr den ihren. Joy Gastell hieß sie. Er erfuhr auch, daß sie zu den» Alten «im Lande gehörte. Sie war in einer alten Handelsstation am Großen Sklavensee zur Welt gekommen und als Kind mit ihrem Vater über die Rocky Mountains nach dem Yukon gegangen.
Jetzt war sie unterwegs ins Innere des Landes — mit ihrem Vater, der von Geschäften in Seattle aufgehalten, dann mit der unseligen» Chanter «verunglückt und von dem Dampfer, der ihnen zu Hilfe kam, wieder nach Puget Sund zurückgebracht worden war.
Da sie noch immer im Bett lag, zog er die Unterhaltung nicht in die Länge. Er lehnte heldenmütig eine zweite Tasse Kaffee ab und entfernte sich und seine dreiviertel Tonne Proviant aus dem Zelt.
Außerdem nahm er noch verschiedene Erkenntnisse von dort mit, zunächst die, daß sie einen bezaubernden Namen und ein Paar noch bezauberndere Augen hatte. Auch, daß sie höchstens zwanzig oder ein- oder zweiundzwanzig Jahre alt sein konnte. Ferner, daß ihr Vater offenbar Franzose war und daß sie selbst einen energischen Willen und ein bemerkenswertes Temperament besaß. Und schließlich, daß sie ihre Erziehung jedenfalls nicht im Grenzland genossen hatte.
Der Weg führte über vom Eis glattgescheuerte Felsen oberhalb der Baumgrenze um den Krater-See herum bis zu dem Bergpaß, über den man Glückslager und die ersten verkrüppelten Fichtenbäume erreichte. Wenn Kid sein schweres Gepäck um den ganzen See herum schleppen mußte, bedeutete das mehrere Tage unbeschreiblich harten Schuftens.
Auf dem See lag freilich ein Boot aus Segelleinen, das als Fähre benutzt wurde. Zwei Fahrten damit, nur zwei Stunden im ganzen — und er war mit seinem Gepäck von zwanzig Zentnern Gewicht drüben. Aber er war vollkommen abgebrannt, und der Fährmann forderte vierzig Dollar für jede Tonne!
«Sie haben ja eine Goldmine in dem mistigen Boot, lieber Freund«, sagte er zu dem Fährmann.»Aber haben Sie nicht Lust auf noch eine Goldmine?«
«Zeigen Sie sie mir«, lautete die Antwort.
«Ich will sie Ihnen verkaufen, wenn Sie meine Ausrüstung übersetzen. Es ist freilich nur eine Idee, und ich habe kein Patent darauf, aber Sie können ja abspringen, wenn sie Ihnen nicht zusagt. Einverstanden?«
Der Fährmann nickte, und Kid fand sein Gesicht hinreichend vertrauenerweckend.
«Also hören Sie: Sie sehen die Gletscher da? Nehmen Sie jetzt eine Axt und gehen Sie damit hin. An einem Tage können Sie eine ganz ordentliche Rinne vom Gipfel bis zur Sohle machen. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill? Die Vereinigten Rutschbahnen von Chilcoot und Krater-See, Aktiengesellschaft! Sie können fünfzig Cent je hundert Pfund verlangen und hundert Tonnen täglich schaffen… und Sie haben nichts anderes zu tun, als die Pinke in die Tasche zu stecken.«
Zwei Stunden später stand Kid schon mit seinem Gepäck auf der anderen Seite des Sees und war seinen Berechnungen um drei Tage voraus. Und als John Bellew ihn endlich einholte, war er schon ein gutes Stück nach dem» Tiefen See «unterwegs, der gleichfalls von einem mit Eiswasser gefüllten vulkanischen Krater gebildet wurde.
Das letzte Stück Weges, das sie den Proviant noch tragen mußten, nämlich vom» Langen See «bis zum Linderman-See, betrug nur drei Meilen. Aber der Weg (wenn man ihn überhaupt so nennen konnte) kletterte erst über einen tausend Fuß hohen Bergkamm, schlängelte sich dann durch ein Gewirr von glatten Felsen in die Tiefe hinab und überquerte schließlich einen ausgedehnten Sumpf. John Bellew protestierte, als er sah, wie Kid mit hundert Pfund in den Traggurten aufstand und dann noch einen Mehlsack von fünfzig Pfund oben auf das große Bündel legte.
«Nur los, du Apostel der Abhärtung!«antwortete Kid.»Jetzt kannst du zeigen, was du leisten kannst… du mit deinem Bärenfutter und deiner einen Garnitur Unterwäsche.«
Aber John Bellew schüttelte den Kopf.
«Ich fürchte, ich werde doch alt, Christoffer.«
«Du bist erst achtundvierzig. Vergiß nicht, daß mein Großvater, also dein Vater, der alte Isaac Bellew, noch mit neunundsechzig einen Mann mit der Faust zu Boden schlug.«
John Bellew grinste und schluckte heldenmütig die bittere Pille.
«Lieber Onkel, ich will dir mal was Wichtiges sagen: Ich bin erzogen wie der kleine Lord Fauntleroy, aber ich kann mehr tragen als du, besser gehen als du, ich kann dich sogar werfen oder dich mit meinen bloßen Fäusten vertrimmen.«
John Bellew streckte die Hand aus und sagte feierlich:»Ich glaube tatsächlich, daß du recht hast, Christoffer, mein Junge. Ich glaube sogar, daß du es mit der Last da auf dem Buckel schaffen kannst. Du hast dich gut entwickelt, mein Junge, obgleich ich es nie von dir erwartet hätte.«
Auf dieser letzten Strecke machte Kid den Weg viermal am Tag hin und zurück — das heißt, daß er täglich vierundzwanzig Meilen im Gebirge herumkletterte, davon zwölf Meilen unter einer Last von hundertfünfzig Pfund. Er war stolz und müde, aber glänzend in Form. Er aß und schlief, wie er noch nie in seinem Leben gegessen und geschlafen hatte. Und als das Endziel ihrer Reise in Sicht kam, war er ganz traurig darüber.
Ein Problem quälte ihn immer noch. Er hatte schon die Erfahrung gemacht, daß er mit hundert Pfund auf dem Rücken hinfallen konnte, ohne sich das Genick zu brechen. Aber er war davon überzeugt, daß er es sich bräche, wenn er mit dem Extrabündel von fünfzig Pfund obendrauf stürzen würde. In alle Wege, die durch den Sumpf führten, wurden von den Tausenden von Gepäckträgern sehr schnell tiefe Löcher getreten, und man mußte deshalb immer neue Wege ausfindig machen. Bei der Suche nach einem solchen neuen Weg hatte Kid Gelegenheit, das Problem mit der Extralast von fünfzig Pfund persönlich zu lösen.
Der weiche, nasse Boden unter ihm gab nach, so daß er strauchelte und kopfüber hinfiel. Die fünfzig Pfund drückten sein Gesicht in den Schlamm, glitten aber vom Hals weg, ohne ihm das Genick zu brechen. Mit den übrigen hundert Pfund auf dem Rücken gelang es ihm, auf Hände und Knie zu kommen — weiter aber nicht. Der eine Arm sank bis zur Schulter ein, so daß seine Backe tief in den Schlamm gedrückt wurde. Als er den Arm mit großer Mühe wieder herauszog, versank der andere bis zur Schulter. In dieser Lage war es ihm unmöglich, die Traggurte zu lösen, andererseits aber konnte er nicht daran denken, aufzustehen, solange er die hundert Pfund auf dem Rücken hatte. Er machte einen Versuch, auf Händen und Knien zu der Stelle zu kriechen, wo der Mehlsack lag, aber bald versank der eine, bald der andere Arm im Schlamm. Er erschöpfte seine Kräfte, ohne vorwärts zu kommen. Und bei seinen heftigen Bewegungen zerschlug und zerriß er die mit Gras bewachsene Oberfläche des Sumpfes derart, daß sich allmählich unmittelbar vor seinem Mund und seiner Nase eine Pfütze von schlammigem Wasser zu bilden begann, die ihm sehr gefährlich zu werden drohte.