Das alles wurde in klassischen Strophen vorgetragen, wobei der eine sehr ausführlich die Qualen eines Eunuchen im Lande der schönsten Frauen schilderte, und der andere mit besonderer Genauigkeit die Hinrichtung dieser Frauen beschrieb. Die Zuhörer waren zufrieden. Schweiß tropfte von der Stirn der Dichter. Dann rief der sanftere der beiden: »Wem gleicht der Mond über dem Araxes?«
»Dem Antlitz deiner Geliebten«, unterbrach ihn der Grimmige.
»Mild ist das Gold dieses Mondes«, rief der Sanfte.
»Nein, er ist wie der Schild eines großen gefallenen Kriegers«, antwortete der Grimmige.
So erschöpften sie nach und nach ihren Vorrat an Vergleichen. Dann sang jeder ein Lied von der Schönheit des Mondes, vom Araxes, der sich wie ein Mädchenzopf durch die Ebene windet, und von Verliebten, die nachts zu den Ufern kommen und in den Mond schauen, der sich im Wasser des Araxes spiegelt…
Zum Sieger wurde der Grimmige erklärt, der mit boshaftem Lächeln als Siegespreis die Laute des Gegners empfing. Ich näherte mich ihm. Er blickte trübe vor sich, während seine Messingschale sich mit Münzen füllte.
»Freust du dich des Sieges?« fragte ich.
Er spuckte verächtlich aus.
»Es ist kein Sieg, Herr, früher gab es Siege. Vor hundert Jahren. Damals durfte der Sieger dem Besiegten den Kopf abhauen. Hoch war damals die Achtung vor der Kunst. Jetzt sind wir verweichlicht. Niemand gibt sein Blut für ein Gedicht her.«
»Du bist jetzt der beste Dichter des Landes.«
»Nein«, sagte er. Seine Augen wurden sehr traurig. »Nein«, wiederholte er, »ich bin nur ein Handwerker. Ich bin kein echter Aschuk.«
»Wer ist ein echter Aschuk?«
»Im Monat Ramasan«, sagte der Grimmige, »gibt es eine geheimnisvolle Nacht, die Nacht Kadir. In dieser Nacht schläft die Natur für eine Stunde ein. Ströme hören auf zu fließen, die bösen Geister hören auf, die Schätze zu bewachen. Man kann Gras wachsen und Bäume sprechen hören. Aus den Flüssen erheben sich die Nymphen, und die Menschen, die in der Nacht Kadir gezeugt werden, sind Weise und Dichter. In der Nacht Kadir muß der Aschuk den Propheten Elias anrufen, den Schutzheiligen aller Dichter. Zur richtigen Zeit erscheint der Prophet, gibt dem Dichter aus einer Schale zu trinken und sagt: ›Von nun an bist du ein echter Aschuk und wirst alles in der Welt mit meinen Augen sehen.‹ Der also Begnadete beherrscht die Elemente; Tiere und Menschen, Winde und Meere gehorchen seiner Stimme, denn in seinem Wort ist die Kraft des Allmächtigen.«
Der Grimmige setzte sich zu Boden und stützte mit den Händen sein Gesicht. Dann weinte er kurz und böse. Er sagte: »Aber niemand weiß, welche Nacht die Nacht Kadir ist und welche Stunde dieser Nacht die Stunde des Schlafes. Deshalb gibt es keine echten Aschuks.«
Er stand auf und ging. Einsam, finster, verschlossen. Ein Steppenwolf im grünen Paradies von Karabagh.
6. Kapitel
An der Quelle von Pechachpur blickten die Bäume gen Himmel wie müde Heilige. Die Quelle rauschte in ihrem engen, steinernen Bett. Kleine Hügel verdeckten den Blick auf Schuscha. Im Osten verloren sich die Felder Karabaghs in den staubigen Steppen von Aserbaidschan. Von dorther wehte der glühende Atem der großen Wüste, das Feuer Zarathustras. Wie das Hirtenland der Bibel dehnten sich verheißungsvoll die Wiesen Armeniens im Süden. Der Hain um uns stand still und reglos, als seien eben erst die letzten Götter der Antike ausgezogen. Ihnen noch hätte das Feuer geweiht sein können, das vor uns qualmte. Auf grellbunten Teppichen waren wir im Kreise um die Flammen gelagert, eine Gesellschaft von zechenden Georgiern und ich. Weinkelche, Früchte, Berge von Gemüsen und Käse umgaben die Feuerstelle. Braten am Spieß rösteten über dem rauchenden Mangal. An der Quelle saßen die Sasandari, die wandernden Spielleute. In ihren Händen lagen Instrumente, deren Namen allein schon Musik waren: Dairah, Tschianuri, Thara, Diplipito. Nun sangen sie irgendein Bajat, ein Liebeslied im persischen Rhythmus, das die großstädtischen Georgier sich zur Erhöhung des fremdartigen Reizes der Umgebung gewünscht hatten. »Dionysische Stimmung« würde unser Lateinlehrer diesen ausgelassenen Versuch, sich den Landessitten anzupassen, nennen. Es war die endlich eingetroffene Familie Kipiani, die all diese heiteren Kurgäste zu dem nächtlichen Fest im Hain bei Schuscha geladen hatte.
Vor mir saß der Tamada, der nach den strengen Regeln des einheimischen Festzeremoniells die Feier leitete. Er hatte glänzende Augen und einen dicken schwarzen Schnurrbart im rötlichen Gesicht. In seiner Hand hielt er einen Kelch und trank mir zu. Ich nippte am Glas, obwohl ich sonst nie trinke. Aber der Tamada war der Vater von Nino, und es ist unhöflich, nicht mitzutrinken, wenn der Tamada es verlangt.
Diener brachten Wasser aus der Quelle. Wer davon trank, konnte essen, soviel er wollte, ohne übersättigt zu werden, denn auch das Wasser von Pechachpur ist eines der unzähligen Wunder von Karabagh.
Wir tranken das Wasser, und der Berg der Speisen wurde kleiner. Ich sah das strenge, vom Feuer flackernd bestrahlte Profil von Ninos Mutter. Sie saß neben ihrem Mann, und ihre Augen lachten. Diese Augen stammten aus Mingrelien, aus der Ebene von Rion, wo einst die Zauberin Medea dem Argonauten Jason begegnet war.
Der Tamada hob das Glas.
»Ein Kelch zu Ehren des durchlauchtigsten Dadiani.«
Ein Greis mit kindlichen Augen dankte. Es war die dritte Runde, die also begann. Die Gläser wurden geleert. Das sagenhafte Wasser von Pechachpur half auch gegen den Rausch. Niemand war betrunken, denn es ist der Rausch des Herzens, den der Georgier beim Gastmahl erlebt. Sein Kopf bleibt klar wie das Wasser von Pechachpur.
Der Hain war erhellt vom Scheine zahlreicher Feuer.
Wir waren nicht die einzigen Zecher. Ganz Schuscha pilgerte allwöchentlich zu den verschiedenen Quellen. Bis zum Morgengrauen dauerten die Feste. Christen und Mohammedaner feierten gemeinsam im heidnischen Schatten des heiligen Haines.
Ich sah Nino an, die neben mir saß. Sie blickte zur Seite. Sie sprach mit dem grauhaarigen Dadiani. So gehörte es sich. Dem Alter die Achtung. Der Jugend die Liebe.
»Sie müssen einmal zu mir kommen, auf mein Schloß Zugdidi«, sagte der Greis, »am Flusse Rion, in dem einst die Sklaven der Medea das Gold in Vließen einfingen. Kommen Sie mit, Ali Khan. Sie werden den tropischen Urwald Mingreliens sehen mit seinen uralten Bäumen.«
»Gerne, Durchlaucht, aber nur Ihretwegen, nicht der Bäume wegen.«
»Was haben Sie gegen die Bäume? Für mich sind sie die Verkörperung des vollendeten Lebens.«
»Ali Khan fürchtet sich vor Bäumen wie ein Kind vor Gespenstern«, sagte Nino.
»Es ist nicht so schlimm. Aber was Ihnen die Bäume sind, ist für mich die Wüste.«
Dadiani zwinkerte mit seinen kindlichen Augen.
»Die Wüste«, sagte er, »fahles Gebüsch und heißer Sand.«
»Die Welt der Bäume verwirrt mich, Durchlaucht. Sie ist voller Schrecken und Rätsel, voller Gespenster und Dämonen. Der Blick ist eingeengt. Es ist finster. Die Sonnenstrahlen verlieren sich im Schatten der Bäume. Alles ist unwirklich im Zwielicht. Nein, ich liebe keine Bäume. Die Schatten des Waldes bedrücken mich, und ich werde traurig, wenn ich das Rascheln der Zweige höre. Ich liebe die einfachen Dinge: Wind, Sand und Gestein. Die Wüste ist einfach wie ein Schwerthieb. Der Wald kompliziert wie der Gordische Knoten. Ich kenne mich nicht aus im Walde, Durchlaucht.«