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Ich beneidete ihn, weil er ein einfacher Mann war, der genau wußte, was er zu tun hatte, während ich grüblerisch und unentschlossen in die Ferne blickte. Ich bin zu lange in das kaiserliche Gymnasium gegangen. Der grüblerische Sinn der Russen hat sich auf mich übertragen.

Wir kamen zum Bahnhof. Frauen, Kinder, Greise, Bauern aus Georgien, Nomaden aus Sakataly belagerten das Stationsgebäude. Es war nicht zu verstehen, wohin und warum sie fahren wollten. Auch sie selber schienen es nicht zu wissen. Sie lagen wie stumpfe Erdklumpen auf dem Feld und bestürmten die ankommenden Züge, ganz gleich, nach welcher Richtung sie abgingen. Ein alter Mann im zerfetzten Schafspelz und mit eitertriefenden Augen saß an der Tür des Warteraumes und schluchzte. Er war aus Lenkoranj, an der persischen Grenze. Er war überzeugt, daß sein Haus zerstört und seine Kinder tot seien. Ich sagte ihm, daß Persien keinen Krieg gegen uns führe. Er blickte trostlos drein.

»Nein, Herr. Lange war das Schwert Irans verrostet. Jetzt wird es neu geschliffen. Nomaden werden uns überfallen, Schahsevanen werden unsere Häuser zerstören, denn wir leben im Reiche des Unglaubens. Der Löwe von Iran wird unser Land verwüsten. Unsere Töchter werden Sklavinnen werden und unsere Söhne Lustknaben.«

Er jammerte lange und sinnlos. Mein Kotschi drängte die Menge auseinander. Mit Mühe gelangten wir auf den Bahnsteig. Die Lokomotive hatte die stumpfe Fratze eines vorsintflutlichen Ungeheuers. Schwarz und bösartig zerschnitt sie das gelbe Antlitz unserer Wüste. Wir stiegen in den Wagen und schlugen die Tür des Abteils zu. Ein Trinkgeld für den Schaffner sicherte uns Ruhe. Der Kotschi setzte sich mit gekrümmten Beinen auf die rote Plüschpolsterung des Diwans, in die drei ineinander verschlungene goldene Buchstaben eingewebt waren: »S. Z. D.«, die Initialen der Transkaukasischen Eisenbahn, des Stolzes der russischen Kolonialpolitik. Der Zug setzte sich in Bewegung.

Das Fenster war geschlossen. Der gelbe Sand draußen dehnte sich in träumerischer Ruhe. Kleine kahle Hügel glänzten im Sandmeer, weich und gerundet. Ich öffnete das Fenster und blickte hinaus. Von fernen, unsichtbaren Meeren wehte über die heißen Dünen ein kühler Wind. Rötlich leuchteten verwitterte Felsen. Funkelnde Körner rollten über das Gestein. Spärliche Kräuter wanden sich schlangenartig um die niederen Kuppen. Durch den Sand zog eine Karawane. Hundert Kamele oder mehr, einhöckrige, zweihöckrige, kleine, große, sie starrten ängstlich auf den Zug. Jedes Tier trug am Halse eine Glocke. Nach ihrem Ton richteten die Kamele den schlaffen Schritt und die wippende Bewegung ihrer Köpfe. Alle Tiere bewegten sich gleichmäßig wie ein einziger Körper im Takte der nomadischen Symphonie von der wandernden Seele Asiens… Ein Stolpern, ein Fehltritt, und eine Glocke fällt aus dem Ton. Das Kamel fühlt den Mißklang und wird unruhig. Es ist die Wollust der Wüste, die dieses sonderbare Geschöpf gebar, diesen Bastard aus Tier und Vogel, anmutig, anziehend und abstoßend zugleich. Die ganze Wüste spiegelt sich in seinem Wesen: ihre Weite, ihr Kummer, ihr Atem, ihr Schlaf.

Der weiche Sand, grau und eintönig, glich dem Antlitz der Ewigkeit. Traumverloren wanderte durch die Ewigkeit die Seele Asiens. Der Zug mit den drei goldenen Lettern »S. Z. D.« fuhr in falscher Richtung. Ich gehörte dorthin, zu den Kamelen, zu den Menschen, die sie führten, zum Sand. Warum hob ich nicht die Hand zur Notbremse? Zurück! Zurück! Ich will nicht mehr! Ich höre den fremden Ton im einförmigen Glockengeläute der ewigen Karawane.

Was ging sie mich an, diese Welt jenseits des Bergmassivs? Ihre Kriege, ihre Städte, ihre Zaren, ihre Sorgen, ihre Freuden, ihre Sauberkeit und ihr Schmutz? Wir sind anders sauber und anders sündhaft, wir haben einen andern Rhythmus und andere Gesichter. Möge der Zug gen Westen sausen. Ich bleibe zurück.

Ganz weit steckte ich den Kopf aus dem Fenster. Die Karawane war zurückgeblieben. Ich blickte ihr nach. Eine große Ruhe überkam mich. Es stand kein Feind in meinem Land. Niemand bedrohte die Steppen Transkaukasiens. Möge mein Kotschi in den Krieg ziehen. Er hat recht. Er kämpft weder für den Zaren noch für den Westen. Er ist der Söldner seiner eigenen Abenteuerlust, er will Blut vergießen und Feinde weinen sehen. Wie jeder Asiate. Auch ich will in den Krieg, mein ganzes Wesen sehnt sich nach der freien Luft eines blutigen Gefechtes, nach dem abendlichen Rauch eines großen Schlachtfeldes. Krieg — ein herrliches Wort, männlich und stark, wie ein Lanzenstich. Und dennoch: ich bin alt geboren, mit jahrhundertealtem Gehirn. Dieser Krieg geht mich nichts an. Ich habe da keinen Sieg zu erkämpfen. Ich muß hierbleiben für den Tag, da der Feind in unser Land, in unsere Stadt, in unseren Erdteil einrückt. Mögen die Übermütigen in diesen Krieg ziehen. Es müssen aber genug Menschen im Lande bleiben, um den künftigen Feind abzuwehren. Denn dumpf fühle ich es: wer immer in diesem Kriege siegt, eine Gefahr zieht heran, eine Gefahr, die größer ist als alle Eroberungszüge des Zaren. Ein Unsichtbarer ergreift die Zügel der Karawane und will sie mit Gewalt auf neue Weideplätze, auf neue Wege lenken. Es können nur die Wege des Westens sein, die Wege, die ich nicht gehen will. Deshalb bleibe ich daheim. Wenn der Unsichtbare gegen meine Welt anrennt, dann erst werde ich zum Schwert greifen.

Ich lehnte mich in die Polster zurück. Es war gut, einen Gedanken zu Ende zu denken. Mag sein, daß die Leute sagen werden, ich bleibe daheim, um mich nicht von den dunklen Augen Ninos trennen zu müssen. Mag sein. Vielleicht haben diese Menschen auch recht. Denn diese dunklen Augen sind für mich wie die heimatliche Erde, wie der Ruf der Heimat nach ihrem Sohn, den ein Fremder auf fremde Wege verleiten will. Ich bleibe, um die dunklen Augen der Heimat vor dem Unsichtbaren zu schützen.

Ich blickte zum Kotschi hinüber. Er schlief und schnarchte begeistert und kriegerisch.

9. Kapitel

Die Stadt lag träge und faul in der Glut der transkaukasischen Augustsonne. Ihr uraltes, runzliges Gesicht war unverändert. Viele Russen waren verschwunden. Sie zogen ins Feld für Zar und Vaterland. Die Polizei durchsuchte die Wohnungen nach Deutschen und Österreichern. Das Öl stieg im Preise, und die Menschen innerhalb und außerhalb der großen Mauer waren zufrieden und glücklich. Nur berufsmäßige Teehausbesucher lasen die Heeresberichte. Der Krieg war weit weg, auf einem andern Planeten. Die Namen der eroberten oder verlorenen Städte klangen fremd und fern. Bildnisse der Generale blickten freundlich und siegesbewußt von den Titelseiten der Zeitschriften. Ich fuhr nicht nach Moskau zum Institut. Ich wollte mich im Kriege nicht von der Heimat trennen. Das Studium würde mir nicht davonlaufen. Viele Leute verachteten mich deswegen und weil ich noch nicht im Feld war. Wenn ich aber vom Dache unseres Hauses auf den bunten Wirbel der alten Stadt hinabblickte, wußte ich, daß kein Aufruf des Zaren mich je von der heimatlichen Erde, von der heimatlichen Mauer trennen würde. Der Vater fragte mich erstaunt und besorgt: »Willst du denn wirklich nicht in den Krieg gehen? Du, Ali Khan Schirwanschir?«

»Nein, Vater, ich will nicht.«

»Die meisten unserer Ahnen sind im Felde gefallen. Es ist der natürliche Tod in unserer Familie.«

»Ich weiß, Vater. Auch ich werde im Felde fallen, aber nicht jetzt und nicht so weit weg.«

»Lieber in Ehren sterben als in Unehren leben.«

»Ich lebe nicht ehrlos. Ich habe keine Pflichten in diesem Krieg.«

Der Vater sah mich mißtrauisch an. War sein Sohn feige?

Zum hundertsten Male erzählte er mir die Geschichte unserer Familie: Noch unter Nadir Schah kämpften fünf Schirwanschirs für das Reich des Silbernen Löwen. Vier fielen im Feldzuge gegen Indien. Nur ein einziger kam mit reicher Beute aus Delhi zurück. Er kaufte Güter, baute Paläste und überlebte den grimmigen Herrscher. Als dann Schah Rukh gegen Hussein Khan kämpfte, schlug sich dieser Ahne auf die Seite des wilden Kadscharenfürsten Aga Mohammed. Mit acht Söhnen folgte er ihm durch Send, Khorossan und Georgien. Nur drei von ihnen blieben am Leben, leisteten dem großen Eunuchen, auch als er Schah geworden, weiterhin Gefolgschaft. Ihre Zelte standen im Lager Aga Mohammeds in Schuscha in der Nacht seiner Ermordung. Mit dem Blute von neun Familienmitgliedern hatten die Schirwanschirs die Güter bezahlt, mit denen Feth Ali, der sanfte Erbe Aga Mohammeds, sie in Schirwan, Mezendaran, Giljan und Aserbaidschan belehnte. Die drei Brüder herrschten über Schirwan als erbliche Vasallen des Königs der Könige. Dann kamen die Russen. Ibrahim Khan Schirwanschir verteidigte Baku, und sein Heldentod bei Gandscha bedeckte den Namen Schirwanschir mit neuem Ruhm. Erst nach dem Frieden von Turkmentschai trennten sich die Güter, die Fahnen und die Schlachtfelder der Schirwanschirs. Die persischen Mitglieder der Sippe kämpften und starben unter Mohammed Schah und Nassreddin Schah in den Feldzügen gegen Turkmenen und Afghanen, die russischen verbluteten für den Zaren im Krimkrieg, im Kampf gegen die Türkei und im Japanischen Krieg. Dafür haben wir Güter und Orden, und die Söhne bestehen ihre Matura auch dann, wenn sie das Gerundium nicht vom Gerundivum unterscheiden können.