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Wir gingen zu der hellerleuchteten weiten Terrasse des Klubs, die auf den nächtlich-dunklen Gouverneursgarten hinausführte. Ich sah die Sterne, das sanft glitzernde Meer und die Leuchttürme der Insel Nargin.

Die Gläser klirrten. Nino und Nachararjan tranken Sekt. Da mich nichts in der Welt, nicht einmal Ninos Augen, zwingen könnten, öffentlich in meiner Heimatstadt Alkohol zu trinken, schlürfte ich, wie gewöhnlich, eine Orangeade. Als die sechzigköpfige Tanzkapelle uns endlich eine Pause gönnte, sagte Nachararjan ernst und nachdenklich.

»Da sitzen wir nun, die Vertreter der drei größten Völker Kaukasiens: eine Georgierin, ein Mohammedaner, ein Armenier. Unter demselben Himmel geboren, von der gleichen Erde getragen, verschieden und dennoch eins — wie die drei Wesen Gottes. Europäisch und asiatisch zugleich, vom Westen und vom Osten empfangend und beiden gebend.«

»Ich glaubte immer«, sagte Nino, »das Element des Kaukasiers sei der Kampf. Und nun sitze ich zwischen zwei Kaukasiern, von denen keiner kämpfen will.«

Nachararjan blickte sie nachsichtig an.

»Beide wollen kämpfen, Prinzessin, beide, aber nicht gegeneinander. Eine steile Wand trennt uns von den Russen. Diese Wand ist das kaukasische Gebirge. Siegen die Russen, dann wird unser Land vollends russisch. Wir verlieren unsere Kirchen, unsere Sprache, unsere Eigenart. Wir werden Bastarde von Europa und Asien, anstatt die Brücke zwischen den beiden Welten zu bilden. Nein, wer für den Zaren kämpft, kämpft gegen den Kaukasus.«

Die Schulweisheit des Lyzeums der heiligen Tamar sprach aus Nino:

»Perser und Türken zerrissen unser Land. Der Schah verwüstete den Osten, der Sultan den Westen. Wie viele georgische Sklavinnen kamen in den Harem! Die Russen sind ja nicht von selbst einmarschiert. Wir haben sie gerufen. Georg XII. hat freiwillig seine Krone dem Zaren abgetreten: ›Nicht zur Mehrung der ohnehin unendlichen Gebiete unseres Kaiserreiches übernehmen wir den Schutz über das Königreich Georgien.‹ Kennt ihr denn nicht diese Worte?«

Natürlich kannten wir sie. Acht Jahre lang hatte man uns in der Schule den Wortlaut des Manifestes eingehämmert, das Alexander I. vor hundert Jahren an uns erlassen hatte. An der Hauptstraße von Tiflis standen diese Worte auf bronzener Tafeclass="underline" »Nicht zur Mehrung der ohnehin unendlichen…«

Nino hatte nicht unrecht. Die Harems des Orients waren damals voll von gefangenen kaukasischen Frauen, die Straßen der kaukasischen Städte voll von christlichen Leichen. Ich hätte ja Nino antworten können: »Ich bin Mohammedaner, ihr seid Christen. Gott hat uns euch zur Beute geschenkt.« Ich schwieg aber und wartete auf die Antwort Nachararjans.

»Sehen Sie, Prinzessin«, sagte er, »ein politisch denkender Mensch muß den Mut zur Ungerechtigkeit, zur Unobjektivität aufbringen. Ich gebe zu: mit den Russen kam Friede ins Land. Diesen Frieden können aber wir, die Völker Kaukasiens, jetzt auch ohne die Russen aufrechterhalten. Die Russen geben an, daß sie uns voreinander schützen müssen. Deshalb die russischen Regimenter, die russischen Beamten und Gouverneure. Aber Prinzessin, urteilen Sie selbst, müssen Sie vor mir geschützt werden? Muß ich vor Ali Khan geschützt werden? Saßen wir nicht alle friedlich im Kreise auf dem bunten Teppich in Pechachpur bei Schuscha? Persien ist doch heute kein Feind mehr, vor dem sich die kaukasischen Völker fürchten müßten. Der Feind sitzt im Norden, und dieser Feind redet uns ein, wir seien Kinder, die voreinander geschützt werden sollten. Wir sind aber schon lange keine Kinder mehr.«

»Und darum gehen Sie nicht in den Krieg?« fragte Nino.

Nachararjan hatte zuviel Sekt getrunken.

»Nicht nur darum«, sagte er, »ich bin faul und bequem. Ich verüble den Russen die Beschlagnahme der armenischen Kirchengüter, und auf der Terrasse dieses Klubs ist es schöner als in den Schützengräben. Meine Familie hat genug Ruhm gesammelt. Ich bin ein Genießer.«

»Ich bin anderer Meinung«, sagte ich, »ich bin kein Genießer, und ich liebe den Krieg. Aber nicht diesen Krieg.«

»Sie sind jung, mein Freund«, sagte Nachararjan und trank.

Er sprach lange und sicherlich sehr klug. Als wir aufbrachen, war Nino beinahe von der Richtigkeit seiner Gedanken überzeugt. Wir fuhren im Auto Nachararjans nach Hause. »Diese herrliche Stadt«, sagte er unterwegs, »die Pforte Europas. Wenn Rußland nicht so zurückgeblieben wäre, wären wir bereits ein europäisches Land.«

Ich dachte an die seligen Zeiten meines Geographieunterrichts und lachte vergnügt.

Es war ein guter Abend. Zum Abschied küßte ich Ninos Augen und Hände, während Nachararjan zum Meer blickte. Später brachte er mich bis zur Pforte Zizianaschwilis… Weiter kam das Auto nicht. Hinter der Mauer begann Asien.

»Werden Sie Nino heiraten?« fragte er noch.

»Inschallah, so Gott will.«

»Sie werden einige Schwierigkeiten zu überwinden haben, mein Freund. Falls Sie Hilfe brauchen, stehe ich Ihnen zur Verfügung. Ich bin dafür, daß sich die ersten Familien unserer Völker verschwägern. Wir müssen einig sein.«

Ich drückte ihm warm die Hand. Es gab also wirklich anständige Armenier. Die Entdeckung war verwirrend.

Ermüdet betrat ich das Haus. Der Diener hockte am Boden und las. Ich blickte in das Buch. Die arabische Zierschrift des Korans schlängelte sich über die Seiten. Der Diener stand auf und grüßte. Ich nahm das göttliche Buch und las:

»Oh, ihr, die ihr glaubt, sehet: der Wein, das Spiel, die Bilder sind ein Greuel und Satanswerk. Meidet sie, vielleicht ergeht es euch dann wohl. Der Satan will euch abwenden von den Gedanken an Allah und vom Gebet.«

Die Seiten des Korans dufteten süßlich. Das dünne, gelbliche Papier knisterte. Das Wort Gottes, eingeklemmt zwischen zwei Lederdeckel, war streng und mahnend. Ich gab das Buch zurück und ging auf mein Zimmer. Der breite niedrige Diwan war weich. Ich schloß die Augen, wie immer, wenn ich besonders gut sehen wollte. Ich sah Sekt, Eugen Onegin auf dem Ball, die hellen Schafsaugen Nachararjans, Ninos sanfte Lippen und die Schar der Feinde, die über die Bergmauer flutet, um unsere Stadt zu bezwingen.

Von der Straße herauf kam eintöniger Gesang. Es war Haschim, der Verliebte. Er war sehr alt, und niemand wußte, welcher Liebe er nachtrauerte. Man nannte ihn mit dem arabischen Ehrennamen Madjnun, der Liebeskranke.

Zur Nachtzeit schlich er durch die leeren Gassen, setzte sich irgendwo an einer Straßenecke nieder und weinte und sang bis zum Morgengrauen von seiner Liebe und seinem Schmerz.

Der monotone Klang seiner Lieder wirkte einschläfernd. Ich drehte mich zur Wand und versank in Dunkel und Traum.

Das Leben war immer noch sehr schön.

11. Kapitel

Ein Stock hat zwei Enden. Ein oberes und ein unteres. Dreht man den Stock um, so ist das obere Ende unten und das untere oben. Am Stock indessen hat sich nichts geändert.

So ergeht es mir. Ich bin derselbe wie vor einem Monat und wie vor einem Jahr. Es ist derselbe Krieg draußen, und dieselben Generale siegen oder werden besiegt. Wer mich aber noch vor kurzem Feigling nannte, senkt jetzt die Augen, wenn ich vorbeigehe: Freunde und Verwandte singen ein Lob meiner Weisheit, und mein eigener Vater sieht mich bewundernd an.

Am Stock indessen hat sich nichts geändert. Eines Tages lief die Nachricht durch die Stadt: Seine Kaiserliche Majestät der Sultan des Hohen Ottomanischen Reiches Memed V. Raschid habe beschlossen, die Welt des Unglaubens mit Krieg zu überziehen. Seine siegreichen Truppen zögen gen Ost und West, um die Gläubigen vom Joche Rußlands und Englands zu befreien. Der Heilige Krieg sei erklärt, und die grüne Fahne des Propheten flattere über dem Palaste des Kalifen.