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So wurde ich zum Helden. Freunde kamen und lobten meinen Weitblick. Ich hatte recht, als ich mich weigerte, in den Krieg zu ziehen. Nie soll ein Mohammedaner gegen den Sultan kämpfen. Die Türken, unsere Brüder, werden in Baku einziehen, und unser Volk wird sich mit dem Volk der Türken zu einer großen Gemeinde der Gläubigen vereinen.

Ich schwieg und verneigte mich stumm. Lob und Tadel müssen einen Weisen kühl lassen. Meine Freunde breiteten die Landkarten aus. Erbittert stritten sie, durch welchen Stadtteil die Türken in Baku einziehen würden. Ich entschied den Streit, indem ich sagte, daß die Türken, woher immer sie auch kämen, zuerst durch das Stadtviertel Armenikend einziehen würden, das Viertel der Armenier. Die Freunde sahen mich voll Bewunderung an und lobten meine Weisheit.

Über Nacht änderte sich die Seele der Menschen. Kein Muslim drängte sich mehr zu den Waffen. Für schweres Geld mußte Seinal Aga seinen plötzlich kriegsfaul gewordenen Iljas Beg in der Garnison von Baku unterbringen. Der Arme hatte knapp vor der türkischen Kriegserklärung seine Offiziersprüfung bestanden, und, o Wunder, selbst Mehmed Haidar war durchgerutscht. Jetzt waren beide Leutnants, saßen in der Kaserne und beneideten mich, der ich dem Zaren keinen Fahneneid geleistet hatte. Der Weg zurück war ihnen versperrt. Niemand hatte sie zum Eid gezwungen. Sie hatten ihn freiwillig abgelegt, und ich hätte mich als erster von ihnen abgewendet, wären sie eidbrüchig geworden.

Ich schwieg viel, meine Gedanken waren unklar. Nur hin und wieder ging ich abends von zu Hause weg und eilte zu der kleinen Festungsmoschee. In der Nähe der Moschee stand ein altes Haus. Dort wohnte Seyd Mustafa, ein Schulfreund von mir. Ihn besuchte ich in den späten Abendstunden.

Seyd Mustafa war ein Nachfahre des Propheten. Er hatte kleine geschlitzte Augen und ein pockennarbiges Gesicht. Er trug stets die grüne Schärpe seines Standes. Sein Vater war Imam in der kleinen Moschee und sein Großvater ein berühmter Gelehrter am Grabe des Imam Reza in der heiligen Stadt Mesched. Er betete fünfmal täglich. Mit Kreide schrieb er auf seine Sohlen den Namen des gottlosen Kalifen Jesid, um täglich den Feind des Glaubens mit den Füßen zu treten. Am heiligen Trauertage des 10. Moharrem zerfetzte er bis aufs Blut die Haut an seiner Brust. Nino schien er zu bigott und sie verachtete ihn darum. Ich liebte ihn der Klarheit seines Blickes wegen; denn er konnte wie kein anderer Gut und Böse, Wahr und Unwahr voneinander unterscheiden.

Er empfing mich mit dem heiteren Lächeln eines Weisen.

»Hast du gehört, Ali Khan? Der reiche Jakub Oghly hat zwölf Kisten Sekt gekauft, um sie mit dem ersten türkischen Offizier zu leeren, der in die Stadt einzieht. Sekt! Sekt zu Ehren des mohammedanischen Heiligen Krieges.«

Ich zuckte die Achseln.

»Was verwunderst du dich noch, o Seyd? Die Menschen haben den Verstand verloren.«

»Wem Allah zürnt, den führt er irre«, sagte Seyd grimmig, er sprang auf, und seine Lippen bebten, »acht Mann sind gestern geflohen, um in der Armee des Sultans zu dienen. Acht Mann!! Ich frage dich, Khan, was geht vor in den Köpfen dieser acht?«

»Sie sind leer wie der Bauch eines hungrigen Esels«, antwortete ich vorsichtig.

Seyds verbissener Zorn kannte keine Grenzen.

»Siehe«, rief er, »Schiiten kämpfen für den sunnitischen Kalifen. Hat nicht Jesid das Blut des Prophetenenkels vergossen? Hat nicht Moawia den gepriesenen Ali hingemordet? Wem gehört das Erbe des Propheten? Dem Kalifen oder dem Unsichtbaren, dem Imam der Ewigkeit, der das Blut des Propheten in seinen Adern hat? Seit Jahrhunderten trauert das Volk der Schiiten, fließt Blut zwischen uns und den Abtrünnigen, die schlimmer sind als die Ungläubigen. Hie Schia, hie Sunna, und zwischen beiden gibt es keine Brücke. Es ist noch gar nicht lange her, daß Sultan Selim vierzigtausend Schiiten abschlachten ließ. Und nun? Schiiten kämpfen für den Kalifen, der das Erbe des Propheten gestohlen hat. Vergessen ist alles, das Blut der Frommen, das Mysterium der Imame. Hier in unserer schiitischen Stadt sitzen Menschen und warten sehnsüchtig darauf, daß der Sunnite kommen und unsern Glauben zerstören wird. Was will der Türke?! Bis Urmia ist Enver vorgerückt. Iran wird geteilt. Der Glaube zerstört. O Ali, komm mit flammendem Schwert, richte die Abtrünnigen! O Ali, Ali…!«

Tränen flossen über sein Gesicht. Er ballte seine Hand zur Faust und schlug sich dumpf an die Brust. Erschüttert sah ich ihn an. Ich wußte nicht mehr, was recht und was unrecht sei. Ja, die Türken waren Sunniten. Und doch sehnte sich mein Herz nach dem Einzuge Envers in unsere alte Stadt. Was war das? War das Blut unserer Märtyrer wirklich umsonst geflossen?

»Seyd«, sagte ich, »die Türken sind unseres Stammes. Ihre Sprache ist unsere Sprache. Das Blut Turans fließt in unser beider Adern. Vielleicht stirbt es sich deshalb leichter unter dem Halbmond des Kalifen.«

Seyd Mustafa trocknete seine Augen.

»In meinen Adern fließt das Blut Mohammeds«, sagte er kühl und stolz. »Das Blut Turans? Ich glaube, du hast selbst das wenige vergessen, was du in der Schule gelernt hast. Fahr in die Berge von Altai oder noch weiter, zur Grenze Sibiriens: wer wohnt dort? Türken, wie wir, unserer Sprache und unseres Blutes. Gott hat sie irregeführt, und sie sind Heiden geblieben, beten die Götzen an: den Wassergott Su-Tengri, den Himmelsgott Teb-Tengri. Wenn diese Jakuten oder Altaier mächtig wären und gegen uns kämpften, sollten dann wir Schiiten uns über die Siege der Heiden freuen, nur weil sie unseres Blutes sind?«

»Was sollen wir tun, Seyd?« fragte ich. »Irans Schwert ist verrostet. Wer gegen die Türken kämpft, hilft dem Zaren. Sollten wir im Namen Mohammeds das Kreuz des Zaren gegen den Halbmond des Kalifen verteidigen? Was sollen wir tun, Seyd?«

Mustafas Gesicht war unsagbar traurig. Er sah mich an, und mir schien, als spräche die ganze Verzweiflung eines sterbenden Jahrtausends aus seinen Augen.

»Was wir tun sollen, Ali Khan? Ich weiß es selber nicht.«

Seyd Mustafa war ein ehrlicher Mensch.

Ich schwieg betroffen. Die Petroleumlampe im Zimmer Seyds qualmte. Im schmalen Lichtkreis leuchteten die Farben des Gebetteppichs. Der Teppich glich einem Garten, den man zusammenfalten und auf Reisen mitnehmen kann. Er, Seyd Mustafa, hatte es leicht, die Sünden des Volkes zu verdammen. Er war auf Erden wie auf einer Reise. Noch zehn, noch zwanzig Jahre, und er wird Imam sein, am Grabe Rezas in Mesched, einer jener Weisen, die unsichtbar und unmerkbar das Schicksal Persiens leiten. Er hatte schon jetzt die müden Augen eines Greises, der um sein Greisentum weiß und es bejaht. Keinen Zoll des wahren Glaubens wird er preisgeben, auch wenn dadurch Persien wieder groß und mächtig werden könnte. Lieber zugrunde gehen, als durch den Kot der Sünde zum Irrlicht des irdischen Glanzes zu gelangen. Deshalb schweigt er und weiß keinen Rat. Deshalb liebe ich ihn, den einsamen Wächter an der Schwelle des wahren Glaubens.

»Unser Schicksal liegt in Allahs Hand, Seyd Mustafa«, sagte ich ablenkend, »Gott möge uns auf den geraden Weg leiten. Heute wollte ich etwas anderes mit dir besprechen.«

Seyd Mustafa blickte auf seine hennagefärbten Nägel. Ein Rosenkranz aus Bernstein glitt durch seine Finger. Er schlug die Augen auf, und sein pockennarbiges Gesicht wurde breit.

»Ich weiß, Ali Khan, du willst heiraten.«

Bestürzt fuhr ich auf. Ich hatte die Absicht, mit Seyd Mustafa die Gründung einer mohammedanisch-schiitischen Pfadfinderorganisation zu besprechen. Er aber maßte sich schon jetzt das Amt und Wissen eines Seelsorgers an.

»Woher weißt du, daß ich heiraten will, und was geht es dich an?«

»Ich sehe es an deinen Augen, und es geht mich wohl an; denn ich bin dein Freund. Du willst Nino heiraten, die mich nicht mag und die eine Christin ist.«

»So ist es, Mustafa. Was sagst du dazu?«