Noch zwei Tage, und die armenische Schachpartie war gewonnen. Ninos Stimme im Telephon schluchzte und lachte.
»Der Segen der Eltern mit uns, Amen.«
»Jetzt muß aber dein Vater mich anrufen. Er hat mich ja beleidigt.«
»Ich werde dafür sorgen.«
So geschah es auch. Die Stimme des Fürsten war sanft und milde.
»Ich habe das Herz meines Kindes geprüft. Sein Gefühl ist echt und heilig. Es wäre eine Sünde, ihm im Wege zu stehen. Kommen Sie herüber, Ali Khan.«
Ich ging hinüber. Die Fürstin weinte und küßte mich. Der Fürst war feierlich. Er sprach von der Ehe, doch ganz anders als mein Vater: seiner Meinung nach bestand die Ehe in gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger Achtung. Mann und Frau müssen mit Rat und Tat einander beistehen. Sie müssen auch immer daran denken, daß sie beide gleichberechtigte Menschen mit freier Seele sind. Ich schwor feierlich, Nino nicht zu verschleiern und keinen Harem zu halten. Nino kam, und ich küßte sie auf die Stirn. Sie versteckte den Kopf zwischen ihre Schultern und glich einem kleinen Vogel, der des Schutzes bedarf.
»Nach außen darf aber noch nichts bekannt werden«, sagte der Fürst, »erst muß Nino die Schule beenden. Lerne gut, mein Kind. Wenn du durchfällst, mußt du noch ein Jahr warten.«
Ninos schmale, wie mit der Feder gezeichnete Augenbrauen hoben sich.
»Sei unbesorgt, Vater, ich falle nicht durch, weder in der Schule noch in der Ehe. Ali Khan wird mir in beidem helfen.«
Als ich das Haus verließ, stand vor der Tür das Auto Nachararjans… Seine hervorstehenden Augen blinzelten mich an.
»Nachararjan«, rief ich, »soll ich Ihnen ein Gestüt schenken oder ein Dorf in Daghestan, wollen Sie einen persischen Orden oder einen Orangenhain in Enseli?«
Er klopfte mir auf die Schulter.
»Weder — noch«, sagte er, »mir genügt das Gefühl, das Schicksal korrigiert zu haben.«
Dankbar sah ich ihn an. Wir fuhren hinaus zur Bucht von Bibi-Eibat. Dunkle Maschinen folterten dort die ölgetränkte Erde. Wie Nachararjan in mein Schicksal, so griff das Haus Nobel in die ewigen Formen der Landschaft ein. Ein gewaltiges Stück See war vom Ufer weggedrängt worden. Der alte Meeresgrund gehörte nicht mehr der See und noch nicht dem festen Land. Aber schon hatte ein geschäftstüchtiger Wirt am äußersten Ende der neugewonnenen Fläche eine Teestube errichtet. Dort saßen wir und tranken Kjachtatee, den schönsten Tee der Welt, schwer wie Alkohol. Von dem duftenden Getränk berauscht, sprach Nachararjan viel von den Türken, die vielleicht in Karabagh einfallen würden, und von den Armeniermetzeleien in Kleinasien. Ich hörte kaum zu.
»Fürchten Sie sich nicht«, sagte ich, »wenn die Türken bis nach Baku kommen, verstecke ich Sie in meinem Hause.«
»Ich fürchte mich nicht«, sagte Nachararjan.
Fern überm Meer, hinter der Insel Nargin, leuchteten die Sterne. Friedliche Stille senkte sich über die Ufer.
»Meer und Küste sind wie Mann und Frau, im ewigen Kampf miteinander vereint.« Sagte ich es? Sagte es Nachararjan? Ich wußte es nicht mehr. Er brachte mich heim. Dem Vater sagte ich:
»Kipiani dankt für die Ehre, die das Haus Schirwanschir seinem Geschlecht erwiesen hat. Nino ist meine Braut. Geh morgen hin und besprich alles Weitere.«
Ich war sehr müde und sehr glücklich.
14. Kapitel
Tage wuchsen heran zu Wochen, zu Monaten. Es hatte sich viel ereignet in der Welt, im Lande und im Haus. Die Nächte wurden lang, gelbes Laub lag tot und traurig auf allen Wegen des Gouverneursgartens. Herbstlicher Regen verdunkelte den Horizont. Eisschollen trieben im Meer herum und zerrieben sich an den felsigen Ufern. Eines Morgens bedeckte hauchdünner Schnee die Straßen, und einen Augenblick lang herrschte der Winter.
Dann wurden die Nächte wieder kurz.
Kamele kamen daher, traurigen Schrittes aus der Wüste. Sie trugen Sand in ihren gelben Haaren, und ihre Augen, die die Ewigkeit gesehen, blickten immerzu in die Ferne. Auf ihren Höckern schleppten sie Kanonen, deren Läufe, seitlich festgeschnallt, mit der Mündung zur Erde herabhingen; Kisten mit Munition und Gewehre: die Kriegsbeute aus den großen Kämpfen. Gefangene Türken zogen durch die Stadt in grauen Enverlyks, zerfetzt und zerschunden. Sie marschierten zum Meer, und kleine Küstendampfer brachten sie zur Insel Nargin. Dort starben sie an Ruhr, Hunger oder Heimweh. Oder sie flohen und kamen um in den Salzwüsten Persiens und in den bleiernen Fluten des Kaspischen Meeres.
Weit in der Ferne tobte der Krieg. Doch diese Ferne war plötzlich nahe und greifbar. Züge mit Soldaten kamen vom Norden. Züge mit Verwundeten vom Westen. Der Zar setzte seinen Onkel ab und führte selbst das Heer von zehn Millionen. Der Onkel herrschte jetzt über Kaukasien, und sein düsterer und gewaltiger Schatten fiel über unser Land. Großfürst Nikolai Nikolajewitsch. Bis ins Herz von Anatolien griff seine lange, knochige Hand. Der Groll, den er gegen den Zaren hegte, entlud sich in den wilden Angriffen seiner Divisionen. Über Schneeberge und Sandwüsten rollte der Groll des Großfürsten gen Bagdad, gen Trapezunt, gen Stambul. »Der lange Nikolai« sagten die Menschen und sprachen voll Schreck von der wilden Raserei seiner Seele, von dem dunklen Wahn des tobenden Kriegers.
Länder ohne Zahl griffen in den Kampf ein. Von Afghanistan bis zur Nordsee zog sich die Front, und die Namen der verbündeten Monarchen, Staaten und Feldherren bedeckten die Zeitungsspalten wie giftige Fliegen die Leichen der Helden.
Und wieder kam der Sommer. Sengende Glut ergoß sich über die Stadt, der Asphalt schmolz unter den Schritten der Fußgänger. Siege wurden gefeiert in Ost und West, und Nino stand im Prüfungssaal des Lyzeums der hl. Tamar und bewies ihre Reife durch mathematische Gleichnisse, klassische Zitate, historische Daten und in verzweifelten Fällen durch flehendes Aufschlagen ihrer großen georgischen Augen.
Ich saß herum in Teestuben, in Kaffeehäusern, bei Freunden und zu Hause. Viele Leute schalten mich wegen der Freundschaft mit dem Armenier Nachararjan. Das Regiment Iljas Begs stand immer noch in der Stadt und übte auf dem staubigen Kasernenhof die Regeln der Kriegskunst. Oper, Theater und Kinos spielten nach wie vor. Es hatte sich viel ereignet, aber nichts geändert in der Welt, im Lande und im Haus.
Wenn Nino, unter der Last des Wissens seufzend, zu mir kam, berührten meine Hände ihre kühle und glatte Haut. Ihre Augen waren tief und von neugieriger Angst erfüllt. Wir gingen in den Stadtklub, ins Theater und zu den Bällen. Iljas Beg, Mehmed Haidar, Nachararjan, sogar der fromme Seyd Mustafa begleiteten uns. Freundinnen aus dem Lyzeum der hl. Tamar blickten uns lange nach, und Aische, die Kusine, berichtete, wie die Lehrer in stiller Nachsicht der künftigen Frau Schirwanschir ein Genügend nach dem andern ins Klassenheft eintrugen.
Wir waren selten allein. Die Freunde umgaben uns wie eine steile Wand des besorgten Wohlwollens. Untereinander vertrugen sie sich nicht immer. Wenn Nachararjan, dick und reich, seinen Sekt schlürfte und von der gegenseitigen Liebe der kaukasischen Völker sprach, so verdüsterte sich das Gesicht Mehmed Haidars, und er sagte:
»Ich glaube, Herr Nachararjan, daß Ihre Sorge überflüssig ist. Es wird nach dem Kriege sowieso nur eine ganz geringe Zahl von Armeniern übrigbleiben.«
»Aber Nachararjan wird zu den übriggebliebenen gehören«, rief Nino. Nachararjan schwieg und schlürfte den Sekt. Wie ich hörte, war er gerade im Begriff, sein ganzes Geld nach Schweden zu bringen.