»Hab ich dir nicht schwören müssen, Vater, mich nie mit Politik zu befassen?«
»Um sein Volk besorgt sein, heißt noch nicht, Politik treiben. Es gibt Zeiten, Ali Khan, in denen es Pflicht ist, an die Sache des Volkes zu denken.«
An jenem Abend war ich mit Nino in der Oper verabredet. Es gastierte Schaljapin. Seit Tagen freute sich Nino auf die Vorstellung. Ich ging ans Telephon und rief Iljas Beg an.
»Iljas, ich bin heute beschäftigt. Kannst du mit Nino in die Oper gehen? Ich habe bereits die Karten.«
Eine verdrießliche Stimme antwortete:
»Wo denkst du hin? Ich bin doch nicht mein eigener Herr. Ich habe heute Nachtdienst, zusammen mit Mehmed Haidar.«
Ich rief Seyd Mustafa an.
»Ich kann wirklich nicht. Ich bin mit dem großen Mullah Hadschi Machsud verabredet. Er ist nur für wenige Tage aus Persien gekommen.«
Ich rief Nachararjan an. Seine Stimme klang sehr verlegen:
»Warum gehen Sie denn nicht, Ali Khan?«
»Es kommen Gäste zu uns.«
»Um zu beraten, wie man alle Armenier umbringt. Nicht wahr? In der Zeit, da mein Volk verblutet, sollte ich eigentlich nicht ins Theater gehen. Aber da wir Freunde sind — überdies singt Schaljapin wirklich ausgezeichnet.«
Endlich. In der Not zeigt sich der wahre Freund. Ich verständigte Nino und blieb zu Hause.
Um sieben Uhr kamen die Gäste, genau die, die ich erwartet hatte. Unser großer Saal mit den roten Teppichen und weichen Ottomanen beherbergte um halb acht eine Milliarde Rubel, oder vielmehr Menschen, die über eine Milliarde verfügten. Ihre Zahl war nicht groß, und sie waren mir alle seit Jahren bekannt.
Seinal Aga, Iljas Begs Vater, kam als erster. Er ging gebeugt, seine wäßrigen Augen waren verschleiert. Er saß auf der Ottomane, den Stock neben sich, und aß langsam und bedächtig ein Stück türkischen Honigs. Nach ihm betraten zwei Brüder den Saaclass="underline" Ali Assadullah und Mirza Assadullah. Ihr Vater, der verstorbene Schamsi, hinterließ ihnen ein Dutzend Millionen. Die Söhne erbten den Verstand des Vaters und lernten lesen und schreiben dazu. So vermehrten sie die Millionen um ein Vielfaches. Mirza Assadullah liebte Geld, Weisheit und Ruhe. Sein Bruder war wie das Feuer Zarathustras. Er brannte und verbrannte nicht. Er bewegte sich unaufhörlich. Er liebte Kriege, Abenteuer und Gefahren. Es gab viele blutige Geschichten im Lande, deren Held er gewesen sein sollte. Der finstere Burjat Sade, der neben ihm saß, liebte keine Abenteuer, um so mehr liebte er die Liebe. Als einziger unter uns hatte er vier Frauen, die sich erbittert bekriegten. Er schämte sich dessen, konnte aber an ihrer Natur nichts ändern. Nach der Zahl seiner Kinder gefragt, antwortete er melancholisch: »Fünfzehn oder achtzehn, was weiß ich, ich armer Mann?« Nach der Zahl seiner Millionen gefragt, antwortete er dasselbe.
Jussuf Oghly, der am anderen Ende des Saales saß, sah ihn mißbilligend und neiderfüllt an. Er hatte nur eine, wie es hieß, nicht sehr schöne Frau. Diese sagte ihm schon am Hochzeitstag:
»Wenn du deinen Samen an andere Frauen vergeudest, so werde ich diesen anderen Frauen Ohren, Nasen und Brüste abschneiden. Was ich dir antun werde, kann ich gar nicht aussprechen.«
Die Frau stammte aus einem kriegerischen Geschlecht. Es war keine leere Drohung. Also sammelte der Arme Bilder.
Der Mann, der um halb acht in den Saal trat, war sehr klein, sehr mager und hatte zarte Hände und rotgefärbte Nägel. Wir erhoben uns und verbeugten uns, sein Unglück ehrend. Sein einziger Sohn Ismail war vor wenigen Jahren gestorben. Zu Ehren des Sohnes erbaute der Mann in der Nikolaistraße ein prunkvolles Gebäude. »Ismail« stand mit großen goldenen Lettern an der Fassade geschrieben. Das Gebäude schenkte er der islamischen Wohltätigkeit. Er hieß Aga Musa Nagi, und nur das Gewicht seiner zweihundert Millionen verschaffte ihm den Zugang in unsern Kreis. Denn er war kein Muslim mehr. Er gehörte der ketzerischen Sekte des Bab an, des Häretikers, den Schah Nassreddin hinrichten ließ. Nur wenige von uns wußten genau, was Bab wollte. Dafür wußten wir alle, daß Nassreddin glühende Nadeln unter die Nägel der Babisten jagen, sie auf Scheiterhaufen verbrennen und mit Peitschen zu Tode prügeln ließ. Eine Sekte, die solche Strafen heraufbeschwor, muß Schlimmes gelehrt haben.
Um acht Uhr waren alle Gäste versammelt. Sie saßen da, die Fürsten des Öls, tranken Tee, aßen Süßigkeiten und sprachen von ihren Geschäften, die blühten, von ihren Häusern, ihren Pferden, ihren Gärten und ihren Verlusten am grünen Tisch des Spielkasinos. So sprachen sie bis neun, dem Gebote des Anstandes folgend. Dann räumten die Diener den Tee weg, schlossen die Türe, und mein Vater sagte:
»Mirza Assadullah, der Sohn Schamsi Assadullahs, hat verschiedene Gedanken über das Schicksal unseres Volkes. Wollen wir ihn anhören.«
Mirza Assadullah hob sein schönes, etwas verträumtes Gesicht. Er sagte:
»Wenn der Großfürst den Krieg gewinnt, gibt es kein einziges islamisches Land mehr. Die Hand des Zaren wird schwer sein. Uns wird er nicht anrühren, denn wir haben Geld. Aber er wird Moscheen, Schulen schließen und die Sprache verbieten. Fremde werden in Überzahl ins Land kommen, denn niemand schützt mehr das Volk des Propheten. Es wäre besser für uns, wenn Enver siegen würde, auch wenn er nur ein ganz klein wenig siegen würde. Aber können wir etwas dazu tun? Nein, sage ich. Wir haben Geld, aber der Zar hat mehr Geld. Wir haben Menschen, aber der Zar hat mehr Menschen. Was sollen wir tun? Wenn wir einen Teil unseres Geldes und einen Teil unserer Menschen dem Zaren geben, wenn wir eine Division aufstellen und ausstatten, wird seine Hand nach dem Kriege vielleicht dankbar sein. Oder gibt es einen anderen Weg?«
Er verstummte. Sein Bruder Ali richtete sich auf. Er sagte:
»Die Hand des Zaren ist schwer. Aber wer weiß, vielleicht gibt es nach dem Kriege überhaupt keine Hand des Zaren.«
»Auch dann, mein Bruder, gibt es immer noch zu viele Russen im Land.«
»Ihre Zahl kann abnehmen, mein Bruder.«
»Man kann sie nicht alle totschlagen, Ali.«
»Man kann sie alle totschlagen, Mirza.«
Sie schwiegen. Dann sagte Seinal Aga — er sprach sehr leise, altersschwach und ganz ohne Ausdruck:
»Niemand weiß, was im Buche geschrieben steht. Die Siege des Großfürsten sind keine Siege, auch wenn er Stambul erobert. Der Schlüssel zu unserm Glück, er liegt nicht in Stambul. Er liegt im Westen. Und dort siegen die Türken, auch wenn sie Deutsche heißen. Russen besetzen Trapezunt, Türken besetzen Warschau. Die Russen? Sind es überhaupt noch Russen? Ich habe gehört, daß ein Bauer, Rasputin soll sein Name sein, über den Zaren herrscht, die Zarentöchter streichelt und die Zarin Mama nennt. Es gibt Großfürsten, die den Zaren stürzen wollen.
Es gibt Menschen, die nur den Frieden abwarten, um zu rebellieren. Es wird alles ganz anders sein nach diesem Krieg.«
»Ja«, sagte ein dicker Mann mit langem Schnurrbart und funkelnden Augen, »es wird ganz anders sein nach dem großen Krieg.«
Es war Feth Ali Khan von Choja, ein Rechtsanwalt. Wir wußten von ihm, daß er ständig über die Sache des Volkes grübelte.
»Ja«, wiederholte er inbrünstig, »und da es ganz anders sein wird, brauchen wir um niemandes Gunst zu betteln. Wer immer in diesem Krieg siegt, er wird schwach, mit vielen Wunden bedeckt, aus dem Kampf hervorgehen, und wir, die nicht geschwächt, nicht verwundet sind, können dann fordern anstatt zu bitten. Wir sind ein islamisches, ein schiitisches Land, und wir erwarten vom Hause Romanow und vom Hause Osman dasselbe: Selbständigkeit in allen Dingen, die uns angehen. Je schwächer die Mächte nach dem Kriege sein werden, desto näher werden wir der Freiheit sein. Diese Freiheit wird uns erwachsen aus unserer unverbrauchten Kraft, unserem Geld und unserem Öl. Denn vergeßt nicht, die Welt hat uns nötiger als wir die Welt.«
Die Milliarde im Zimmer war sehr zufrieden. Abwarten, das war ein schönes Wort. Abwarten, ob der Türke, ob der Russe siegt. Wir haben das Öl, der Sieger wird um unsere Gunst betteln müssen. Und bis dahin? Spitäler bauen, Kinderasyle, Blindenheime, für Krieger unseres Glaubens. Niemand soll uns Mangel an Gesinnung vorwerfen.