Ich saß in der Ecke, schweigend und grollend. Ali Assadullah ging durch den Saal und setzte sich zu mir.
»Was sagen Sie dazu, Ali Khan?«
Ohne meine Antwort abzuwarten, beugte er sich vor und flüsterte: »Es wäre schön, alle Russen in unserem Lande umzubringen. Und nicht nur die Russen. Alle Fremden, die anders sprechen, anders beten und anders denken. Im Grunde wollen wir es ja alle, aber nur ich wage es auszusprechen. Was dann kommt? Meinetwegen soll dann Feth Ali regieren. Obwohl ich mehr für Enver bin. Aber zuerst ausrotten.«
Er sprach das Wort »ausrotten« mit zarter Sehnsucht aus, als hieße es »lieben«. Seine Augen glänzten, sein Gesicht lächelte spitzbübisch. Ich schwieg. Jetzt sprach Aga Musa Nagi, der Babist. Seine kleinen Augen blinzelten.
»Ich bin ein alter Mann«, sagte er, »und ich bin traurig über das, was ich sehe, und über das, was ich höre. Russen rotten die Türken aus, die Türken die Armenier, die Armenier wollen uns ausrotten und wir die Russen. Ich weiß nicht, ob das gut ist. Wir haben vernommen, was Seinal Aga, Mirza, Ali und Feth Ali über das Schicksal unseres Volkes denken. Ich habe verstanden, daß sie um die Schulen, um die Sprache, um die Krankenhäuser und um die Freiheit besorgt sind. Aber was ist Schule, wenn dort nur Unsinn unterrichtet wird, was ist ein Krankenhaus, wenn dort der Körper geheilt und die Seele vergessen wird. Unsere Seele will zu Gott. Doch jedes Volk denkt, es habe einen andern Gott. Ich glaube aber, daß sich durch die Stimme aller Weisen derselbe Gott offenbarte. Deshalb verehre ich Christus und Konfuzius, Buddha und Mohammed. Von einem Gott kommen wir, und durch Bab kehren wir alle zu ihm zurück. Das sollte dem Volke verkündet werden. Es gibt kein Schwarz und es gibt kein Weiß, denn in Schwarz ist Weiß und in Weiß ist Schwarz. Deshalb ist mein Rat: tun wir nichts, was jemandem auf Erden schaden kann, denn wir sind in jedem, und ein jeder ist in uns.«
Wir schwiegen betroffen. Das war also die Häresie des Bab.
Neben mir ertönte ein lautes Schluchzen. Ich blickte mich erstaunt um und sah das Gesicht Ali Assadullahs tränenüberströmt und gramverzehrt.
»Oh, meine Seele«, schluchzte er, »wie recht Sie haben. Welch Glück, Ihnen zu lauschen. Oh, Allmächtiger! Wenn bloß alle Menschen zu gleich tiefer Erkenntnis gelangt wären.«
Er trocknete sich die Tränen, schluchzte noch ein paarmal und fügte bedeutend kühler hinzu:
»Ohne Zweifel, mein Verehrungswürdiger, die Hand Gottes ist über allen Händen, aber deshalb ist es nicht weniger wahr, o Quelle der Weisheit, daß man sich auf die gnadenvolle Eingebung des Allerhöchsten nicht unbedingt verlassen kann. Wir sind nur Menschen, und wenn die Eingebung fehlt, müssen wir selbst Wege finden, um die Schwierigkeiten zu beseitigen.«
Es war ein kluger Satz und es waren kluge Tränen. Ich merkte, wie Mirza seinen Bruder voll Bewunderung ansah.
Die Gäste erhoben sich. Schmale Hände berührten grüßend die dunklen Stirnen. Die Rücken beugten sich und die Lippen murmelten:
»Friede über euch. Bleiben Sie mit einem Lächeln zurück, o Freund.«
Die Sitzung war zu Ende. Die Milliarde ergoß sich über die Straße, grüßend, händedrückend und kopfnickend. Es war halb elf. Der Saal war leer und bedrückend. Einsamkeit überfiel mich. Ich sagte dem Diener:
»Ich gehe noch weg. Zur Kaserne. Iljas Beg hat Nachtdienst.«
Ich ging zum Meer, am Hause Ninos vorbei, zur großen Kaserne. Im Fenster des Wachgebäudes brannte Licht. Iljas Beg und Mehmed Haidar würfelten. Ich trat ein. Ein stummes Kopfnicken begrüßte mich. Endlich war das Spiel zu Ende. Iljas Beg warf die Würfel in die Ecke und knöpfte seinen Kragen auf.
»Wie war es?« fragte er. »Hat Assadullah wieder einmal geschworen, alle Russen umzubringen?«
»So ungefähr. Was hört man vom Krieg?«
»Krieg«, sagte er gelangweilt, »die Deutschen haben ganz Polen besetzt. Der Großfürst wird im Schnee steckenbleiben oder auch Bagdad besetzen. Vielleicht werden die Türken Ägypten erobern. Was weiß ich? Es ist langweilig auf dieser Erde.«
Mehmed Haidar rieb seinen kurzgeschorenen, spitzen Schädel.
»Es ist gar nicht langweilig«, sagte er, »wir haben Pferde und Soldaten und verstehen mit Waffen umzugehen. Was braucht ein Mann mehr? Manchmal will ich über die Berge ziehen, im Schützengraben liegen und einen Feind vor mir haben. Der Feind soll gute Muskeln haben und seine Haut soll nach Schweiß riechen.«
»Melde dich doch zur Front«, sagte ich.
Mehmed Haidars Augen blickten unter der niedrigen Stirn traurig und verloren.
»Ich bin nicht der Mann, der auf Mohammedaner schießt. Auch wenn sie Sunniten sind. Aber ich habe den Eid geleistet und kann auch nicht desertieren. Es sollte alles ganz anders werden bei uns im Land.«
Ich sah ihn liebevoll an. Er saß breitschultrig, kräftig, mit einfältigem Gesicht, und erstickte fast vor Kampflust.
»Ich will an die Front, und ich will auch nicht«, sagte er bekümmert.
»Was soll mit unserm Land geschehen?« fragte ich ihn.
Er schwieg und runzelte die Stirn. Das Denken war nicht seine Stärke. Endlich sagte er:
»Unser Land? Moscheen sollte man bauen. Der Erde Wasser geben. Unsere Erde ist durstig. Es ist auch gar nicht gut, daß jeder Fremde zu uns kommt und uns sagt, wie dumm wir sind. Es ist unsere Sache, wenn wir dumm sind. Und dann: ich glaube, es wäre sehr schön, ein großes Feuer anzulegen und alle Öltürme im Lande zu verbrennen. Es wäre ein herrlicher Anblick, und wir wären wieder arm. Niemand brauchte uns dann, und die Fremden ließen uns in Ruhe. Und an Stelle der Bohrtürme würde ich eine schöne Moschee bauen, mit blauen Kacheln. Büffel müßten kommen, und auf dem Ölland sollten wir Getreide pflanzen.«
Er verstummte, in die Vision der Zukunft versunken. Iljas Beg lachte vergnügt:
»Und dann sollte man das Lesen und das Schreiben verbieten, Kerzenlicht einführen und den dümmsten Menschen im Lande zum König wählen.«
Mehmed Haidar überhörte den Spott.
»Gar nicht schlecht«, sagte er, »in früheren Zeiten gab es viel mehr Dumme als jetzt. Die Dummen bauten Wasserkanäle statt Ölquellen, und die Fremden wurden ausgeraubt, anstatt daß sie uns ausraubten. Früher gab es viel mehr glückliche Menschen.«
Ich wollte den einfältigen Burschen umarmen und küssen. Er sprach, als ob er selbst ein Klumpen unserer armen, trockenen, mißhandelten Erde wäre.
Ein wildes Klopfen am Fenster riß mich empor. Ich blickte hinaus. Ein dunkles, pockennarbiges Gesicht starrte mich an. Die schräg sitzenden Augen blitzten.
»Ich bin es, Seyd Mustafa. Laßt mich hinein.«
Ich lief zur Tür. Seyd Mustafa stürzte ins Zimmer. Sein Turban hing schief über die schweißbedeckte Stirn. Sein grüner Gurt war aufgelöst, und der graue Überwurf staubig. Er fiel in den Sessel und rief keuchend:
»Nachararjan hat Nino entführt. Vor einer halben Stunde. Sie sind auf dem Wege nach Mardakjany.«
17. Kapitel
Mehmed Haidar sprang auf. Seine Augen wurden ganz klein. »Ich sattle gleich die Pferde«, er stürzte hinaus. Mein Gesicht glühte. Das Blut drang in die Schläfen, ich hörte ein Sausen, und mir war, als ob eine unsichtbare Hand mit einem Stock auf meinen Kopf einschlage. Wie im Traume vernahm ich die Stimme Iljas Begs:
»Behalte die Fassung, Ali Khan, behalte die Fassung. Verlier sie erst in einer Stunde, wenn wir die beiden eingeholt haben.«
Er stand vor mir. Sein schmales Gesicht war sehr blaß. Er umgürtete mich mit einem geraden kaukasischen Dolch.
»Hier«, sagte er und drückte mir einen Revolver in die Hand, und wieder: »Bleibe ruhig, Ali Khan. Spar die Wut auf für den Weg nach Mardakjany.«