Der Onkel nickte zustimmend mit dem Kopf. Ob es noch was Neues gebe?
»Ja, in Bibi-Eibat haben die Russen viel neues Öl entdeckt. Nobel hat eine große deutsche Maschine ins Land gebracht, um ein Stück des Meeres zuzuschütten und nach Öl zu bohren.«
Der Onkel war sehr erstaunt. »Allah, Allah«, sagte er und preßte besorgt die Lippen zusammen.
»… Zu Hause bei uns ist alles in Ordnung, und so Gott will, verlasse ich nächste Woche das Haus des Wissens.«
So sprach ich die ganze Zeit, und der Alte hörte andächtig zu. Erst als der Wagen sich dem Hause näherte, blickte ich zur Seite und sagte gleichgültig:
»In der Stadt ist ein berühmter Arzt aus Rußland angekommen. Die Leute sagen, er sei sehr wissend und sehe im Gesicht der Menschen die Vergangenheit und die Gegenwart, um daraus die Zukunft abzuleiten.«
Die Augen des Onkels waren vor würdevoller Langeweile halb geschlossen. Ganz teilnahmslos fragte er nach dem Namen des weisen Mannes, und ich sah, daß er mit mir sehr zufrieden war.
Denn das alles nannte man bei uns gutes Benehmen und vornehme Erziehung.
2. Kapitel
Wir saßen auf dem flachen, windgeschützten Dache unseres Hauses: mein Vater, mein Onkel und ich. Es war sehr warm. Weiche, vielfarbige Teppiche aus Karabagh mit barbarisch-grotesken Mustern waren auf dem Dach ausgebreitet, und wir saßen mit gekreuzten Beinen darauf. Hinter uns standen Diener mit Laternen. Vor uns auf dem Teppich lag die ganze Sammlung orientalischer Leckerbissen — Honigkuchen, kandiertes Obst, Hammelfleisch am Spieß und Reis mit Huhn und Rosinen.
Ich bewunderte, wie schon oft, die Eleganz meines Vaters und meines Onkels. Ohne die linke Hand zu rühren, rissen sie breite Brotfladen ab, formten daraus eine Tüte, füllten sie mit Fleisch und führten sie zum Munde. Mit vollendeter Grazie steckte der Onkel drei Finger der rechten Hand in die fette, dampfende Reisspeise, nahm ein Häuflein, quetschte es zu einer Kugel und führte diese zum Mund, ohne auch nur ein Körnchen Reis fallen zu lassen.
Bei Gott, die Russen bilden sich so viel ein auf ihre Kunst, mit Messer und Gabel zu essen, obwohl es auch der Dümmste in einem Monat erlernen kann. Ich esse bequem mit Messer und Gabel und weiß, was sich am Tische der Europäer gehört. Aber obwohl ich schon achtzehn bin, kann ich nicht mit so vollendeter Vornehmheit wie mein Vater oder mein Onkel mit bloß drei Fingern der rechten Hand die lange Reihe der orientalischen Speisen vertilgen, ohne auch nur die Handfläche zu beschmutzen. Nino nennt unsere Eßart barbarisch. Im Hause Kipiani ißt man immer am Tisch und europäisch. Bei uns nur, wenn russische Gäste geladen sind, und Nino ist entsetzt bei dem Gedanken, daß ich auf dem Teppich sitze und mit der Hand esse. Sie vergißt, daß ihr eigener Vater erst mit zwanzig Jahren die erste Gabel in die Finger bekam.
Das Essen war zu Ende. Wir wuschen uns die Hände, und der Onkel betete kurz. Dann wurden die Speisen weggebracht. Kleine Teetassen mit schwerem, dunklem Tee wurden gereicht, und der Onkel begann zu sprechen, wie alle alten Leute nach einem guten Mahl zu sprechen pflegen — breit und etwas geschwätzig. Mein Vater sagte nur wenige Worte, ich schwieg, denn so verlangt es die Sitte. Nur mein Onkel sprach, und zwar, wie immer, wenn er nach Baku kam, von den Zeiten des großen Nassr ed-Din-Schah, an dessen Hofe er eine wichtige, doch mir nicht ganz klare Rolle gespielt hatte.
»Dreißig Jahre«, sagte der Onkel, »saß ich auf dem Teppich der Gunst des Königs der Könige. Dreimal hat mich Seine Majestät auf seine Reisen ins Ausland mitgenommen. Während dieser Reisen habe ich die Welt des Unglaubens besser kennengelernt als irgendeiner. Wir besuchten kaiserliche und königliche Paläste und die berühmtesten Christen der Zeit. Es ist eine seltsame Welt, und am seltsamsten behandelt sie die Frauen. Die Frauen, selbst Frauen von Königen und Kaisern, gehen sehr nackt durch die Paläste, und niemanden empört es, vielleicht weil die Christen keine richtigen Männer sind, vielleicht aus einem andern Grund. Gott allein weiß es. Dafür empören sich die Ungläubigen über ganz harmlose Dinge.
Einmal war Seine Majestät beim Zaren zum Essen geladen. Neben ihm saß die Zarin. Auf dem Teller Seiner Majestät lag ein sehr schönes Stück Huhn. Seine Majestät nahm das schöne, fette Stück ganz vornehm mit drei Fingern der rechten Hand und legte es von seinem Teller auf den Teller der Zarin, um ihr dadurch gefällig zu sein. Die Zarin wurde ganz blaß und begann vor Schreck zu husten. Später erfuhren wir, daß viele Höflinge und Prinzen des Zaren über die Liebenswürdigkeit des Schahs ganz erschüttert waren. So niedrig steht die Frau im Ansehen der Europäer! Man zeigt ihre Nacktheit der ganzen Welt und braucht nicht höflich zu sein. Der französische Botschafter durfte sogar nach dem Essen die Frau des Zaren umarmen und sich mit ihr bei den Klängen gräßlicher Musik durch den Saal drehen. Der Zar selbst und viele Offiziere seiner Garde schauten zu, doch keiner schützte die Ehre des Zaren.
In Berlin bot sich uns ein noch seltsameres Schauspiel. Wir wurden in die Oper geführt. Auf der großen Bühne stand eine sehr dicke Frau und sang abscheulich. Die Oper hieß ›Die Afrikanerin‹. Die Stimme der Sängerin mißfiel uns sehr. Kaiser Wilhelm bemerkte es und bestrafte die Frau auf der Stelle. Im letzten Akt erschienen viele Neger und legten auf der Bühne einen großen Scheiterhaufen an. Die Frau wurde gefesselt und langsam verbrannt. Wir waren darüber sehr befriedigt. Später sagte uns jemand, das Feuer wäre symbolisch. Doch wir glaubten nicht daran, denn die Frau schrie dabei genau so gräßlich wie die Ketzerin Hürriet ül Ain, die der Schah kurz vorher in Teheran verbrennen ließ.«
Der Onkel schwieg, in Gedanken und Erinnerungen versunken. Dann seufzte er tief und fuhr fort:
»Eines aber kann ich von den Christen nicht verstehen: sie haben die besten Waffen, die besten Soldaten und die besten Fabriken, die alles Notwendige erzeugen, um Feinde zu erschlagen. Jeder Mensch, der etwas erfindet, um andere Menschen bequem, schnell und in Massen umzubringen, wird hoch geehrt, bekommt viel Geld und einen Orden. Das ist schön und gut. Denn Krieg muß es geben. Auf der andern Seite aber bauen die Europäer Krankenhäuser, und ein Mensch, der etwas gegen den Tod erfindet, oder ein Mensch, der im Kriege feindliche Soldaten kuriert und ernährt, wird gleichfalls hoch geehrt und bekommt einen Orden. Der Schah, mein hoher Herr, hat sich immer darüber gewundert, daß man Menschen, die Entgegengesetztes leisten und Entgegengesetztes wollen, gleich hoch belohnt. Er sprach darüber einmal mit dem Cäsar in Wien, doch auch der Cäsar konnte ihm dies nicht erklären. Uns dagegen verachten die Europäer sehr, weil uns die Feinde Feinde sind, weil wir sie töten und nicht schonen. Sie verachten uns, weil wir vier Frauen haben dürfen, obwohl sie selbst oft mehr als vier haben, und weil wir so leben und regieren, wie uns Gott befohlen hat.«
Der Onkel verstummte. Es wurde dunkel. Sein Schatten glich einem hageren, alten Vogel. Er richtete sich auf, hüstelte greisenhaft und sagte inbrünstig:
»Und trotzdem, obwohl wir alles tun, was unser Gott von uns verlangt, und die Europäer nichts, was ihr Gott von ihnen verlangt, nimmt ihre Macht und ihre Kraft dauernd zu, während unsere abnimmt. Wer kann mir erklären, woher das kommt?«
Wir konnten es ihm nicht sagen. Er erhob sich, ein alter, müder Mann, und torkelte hinunter in sein Zimmer.
Mein Vater folgte ihm. Die Diener nahmen die Teetassen weg. Ich blieb allein auf dem Dach. Ich wollte nicht schlafen gehen.
Dunkelheit lag über unserer Stadt, die einem Tier glich, das auf der Lauer liegt, sprung- und spielbereit. Es waren eigentlich zwei Städte, und die eine lag in der andern wie die Nuß in der Schale.
Die Schale, das war die Außenstadt, außerhalb der alten Mauer. Die Straßen waren dort breit, die Häuser hoch, die Menschen geldgierig und lärmend. Diese Außenstadt entstand aus dem Öl, das aus unserer Wüste kommt und Reichtum bringt. Dort waren Theater, Schulen, Krankenhäuser, Bibliotheken, Polizisten und schöne Frauen mit nackten Schultern. Wenn in der Außenstadt geschossen wurde, so geschah es immer nur des Geldes wegen. In der Außenstadt begann die geographische Grenze Europas. Nino lebte in der Außenstadt.