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Mechanisch steckte ich die Waffe in die Tasche. Das Gesicht des Pockennarbigen neigte sich zu mir. Ich sah, wie sich die dicken Lippen bewegten, und hörte abgerissene Worte:

»Ich verließ mein Haus, um den weisen Mullah Hadschi Machsud zu besuchen. Das Zelt seiner Weisheit steht neben dem Theater. Wir sprachen von dem Imamat der Zeidi. Um elf Uhr verließ ich ihn. Ich ging am Theater vorbei. Das Sündenspiel war gerade beendet. Ich sah Nino in Begleitung Nachararjans das Auto besteigen. Das Auto fuhr nicht ab. Die beiden sprachen miteinander. Nachararjans Gesicht mißfiel mir. Ich schlich mich heran. Ich lauschte. ›Nein‹, sagte Nino, ›ich liebe ihn.‹ — ›In diesem Land wird kein Stein stehenbleiben‹, sagte Nachararjan, ›ich liebe Sie mehr. Ich entreiße Sie den Klauen Asiens.‹ — ›Nein‹, sagte Nino, ›bringen Sie mich heim.‹ Er schaltete den Motor ein. Ich sprang hinten auf das Koffergestell. Das Auto fuhr zum Hause der Kipianis. Ich hörte nicht, was sie unterwegs sprachen. Aber sie sprachen viel. Am Hause hielt der Wagen. Nino weinte. Plötzlich umarmte Nachararjan sie und küßte ihr Gesicht. ›Sie dürfen nicht in die Hände der Wilden fallen‹, rief er, dann flüsterte er noch etwas, und zum Schluß hörte ich nur einen Satz: ›Zu mir nach Mardakjany, in Moskau lassen wir uns trauen und dann nach Schweden.‹ Ich sah, wie Nino ihn zurückstieß. Da sprang der Motor an. Sie waren weg. Ich lief, was ich konnte, um…«

Er sprach nicht zu Ende, oder ich habe nicht zu Ende gehört. Mehmed Haidar riß die Türe auf. »Die Pferde sind gesattelt«, rief er. Wir eilten in den Hof. Im Scheine des Vollmondes sah ich die Tiere. Sie wieherten leise und stampften mit den Hufen.

»Hier«, sagte Mehmed Haidar.

Er führte mich zu meinem Pferd. Ich sah es an und erstarrte. Das rotgoldene Wunder aus Karabagh, das Pferd Melikows, des Regimentskommandanten. Auf der ganzen Welt gab es keine zwölf dieser Art. Mehmed Haidar blickte finster.

»Der Kommandant wird toben. Nie saß ein anderer auf diesem Pferd. Es jagt wie der Wind. Schon es nicht. Du holst sie ein.«

Ich sprang in den Sattel. Meine Peitsche streifte die Hüften des Wundertieres. Ein gewaltiger Sprung, und ich verließ den Hof der Kaserne. Ich jagte dem Ufer des Meeres entlang. Haßerfüllt schlug ich auf das Pferd ein. Häuser tanzten an mir vorbei, und ich sah Feuerfunken unter den Hufen des Tieres. Wilde Wut packte mich. Ich riß am Zaumzeug. Das Pferd bäumte sich und raste weiter. Endlich — die letzten lehmigen Hütten waren hinter mir. Ich sah die mondübergossenen Felder und den schmalen Landweg nach Mardakjany. Die Nachtluft kühlte mich ab. Rechts und links zogen sich die Melonenfelder. Die runden Früchte glichen Goldklumpen. Der Galopp des Pferdes war gestreckt, federnd, von hinreißendem Gleichmaß. Ich beugte mich weit vor, bis zur goldenen Mähne des Pferdes.

So war es also! Ich sah es ganz deutlich vor mir… Ich hörte jedes Wort, das sie gesprochen hatten. Die Gedanken des Fremden waren plötzlich nah und greifbar. Enver kämpft in Kleinasien. Der Thron des Zaren wankt. In der Armee des Großfürsten armenische Bataillone. Bricht die Front zusammen, dann ergießt sich die Armee Osmans über Armenien, Karabagh und Baku. Nachararjan wittert die Folgen. Goldbarren, schweres armenisches Gold wandert nach Schweden. Es ist aus mit der Verbrüderung der Kaukasusvölker. Ich sehe die beiden in der Theaterloge.

»Prinzessin, es gibt keine Brücke zwischen Ost und West, auch nicht die Brücke der Liebe.«

Nino schweigt. Sie hört zu.

»Wir müssen zueinander halten, wir, die wir vom Schwerte Osmans bedroht sind. Wir, die Botschafter Europas in Asien. Ich liebe Sie, Prinzessin. Wir gehören zueinander. In Stockholm ist das Leben leicht und einfach. Dort ist Europa, der Westen.«

Und dann, als ob die Worte in meiner Gegenwart gesprochen wären:

»Es wird kein Stein in diesem Lande stehenbleiben.«

Und zuletzt:

»Bestimmen Sie selbst Ihr Schicksal, Nino. Nach dem Krieg ziehen wir nach London. Wir werden am Hofe empfangen werden. Ein Europäer muß selbst sein Schicksal meistern. Auch ich schätze Ali Khan, aber er ist ein Barbar, ewig gefangen im Banne der Wüste.«

Ich peitsche das Pferd. Ein wilder Schrei. So heult der Wüstenwolf beim Anblick des Mondes. Lange, hoch, klagend. Die ganze Nacht wird zu einem Schrei. Ich beuge mich ganz nach vorne. Meine Kehle schmerzt. Warum schreie ich auf dem mondübergossenen Weg nach Mardakjany? Ich muß die Wut aufsparen. Scharfer Wind peitscht mein Gesicht. Die Tränen kommen vom Wind, von nichts anderem. Ich weine nicht, auch dann nicht, wenn ich plötzlich weiß, es gibt keine Brücke zwischen Ost und West, auch nicht die Brücke der Liebe. Lockende, leuchtende georgische Augen! Ja, ich stamme vom Wüstenwolf, vom grauen Wolf der Türken. Wie schön er sich das ausgedacht hat: »Wir lassen uns in Moskau trauen und dann nach Schweden.« Ein Hotel in Stockholm, sauber, warm, mit weißer Wäsche. Eine Villa in London. Eine Villa? Mein Gesicht berührt die rotgoldene Haut des Pferdes. Plötzlich beiße ich in den Hals des Tieres. Mein Mund füllt sich mit dem salzigen Geschmack des Blutes. Eine Villa? In Mardakjany hat Nachararjan eine Villa. Mitten in den Obstgärten der Oase. Wie alle Reichen von Baku. Aus weißem Marmor, am Meer gelegen, mit korinthischen Säulen. Wie rasch sind ein Auto und wie rasch ein Pferd aus Karabagh? Ich kenne die Villa. Das Bett ist aus Mahagoniholz, rot und sehr breit. Weiße Laken, wie im Hotel in Stockholm. Er wird nicht die ganze Nacht philosophieren. Er wird… natürlich wird er. Ich sehe das Bett und georgische Augen, von Lust und Schrecken verschleiert. Meine Zähne bohren sich tief in das Fleisch des Pferdes. Das Tier rast. Weiter, weiter! Spar dir die Wut auf, bis du sie einholst, Ali Khan.

Die Strafe ist schmal. Plötzlich lache ich. Welch Glück, daß wir in Asien sind, im wilden, rückständigen, unzivilisierten Asien. Das keine Autostraßen hat, sondern nur holprige Pfade, wie geschaffen für Pferde aus Karabagh. Wie schnell kommt ein Auto auf diesen Straßen vorwärts und wie schnell ein Pferd aus Karabagh?

Die Melonen am Straßenrand blicken mich an, als hätten sie Gesichter.

»Sehr schlechte Straßen«, sagen die Melonen, »nichts für Autos aus England. Nur für Reiter auf karabagher Pferden.«

Wird das Pferd diesen Ritt überleben? Wahrscheinlich nicht. Ich sehe das Gesicht Melikows. Damals in Schuscha, als sein Säbel klirrte und er sprach: Nur wenn der Zar zum Kampf ruft, besteige ich dieses Pferd. Ach was! Soll er dem Pferde nachweinen, der alte Mann aus Karabagh. Noch ein Peitschenhieb und noch einer. Der Wind schlägt mir ins Gesicht, als hätte er Fäuste. Eine Biegung. Wildes Gebüsch wächst am Straßenrand, und endlich — in der Ferne höre ich das Rattern des Motors. Licht fällt auf die Straße. Das Auto! Langsam schleppt es sich vorwärts auf der holprigen Straße. Ein Auto aus Europa. Nicht geschaffen für die Wege Asiens. Noch ein Peitschenhieb! Ich erkenne Nachararjan am Steuer. Und Nino! Nino, zusammengekauert in der Ecke. Warum hören sie nicht den Hufschlag des Pferdes? Er lauscht nicht in die Nacht hinaus? Er fühlt sich sicher in seinem Auto aus Europa, auf dem Wege nach Mardakjany. Er soll stehenbleiben, der lackierte Kasten. Sofort auf der Stelle! Meine Hand entsichert den Revolver. So, liebes Werkzeug aus Belgien. Tu deinen Dienst. Ich drücke ab. Ein schmaler Feuerstreifen erleuchtet für einen Augenblick den Weg. Ich halte das Pferd an. Gut geschossen, gut getroffen, liebes belgisches Werkzeug. Der linke Reifen des Wagens senkt sich wie ein plötzlich entleerter Schlauch. Der lackierte Kasten steht! Ich reite heran, und das Blut hämmert in meinen Schläfen. Ich werfe die Waffe weg, ich weiß nicht mehr genau, was ich tue. Zwei Gesichter sehen mich an. Die Augen in wildem Schrecken aufgerissen. Eine fremde zitternde Hand umklammert den Griff eines Revolvers. Er war doch nicht so sicher, im Auto aus Europa. Ich sehe die fetten Finger und einen Ring mit großen Brillanten. Rasch, Ali Khan! Jetzt darfst du die Fassung verlieren. Ich ziehe den Dolch. Sie wird nicht schießen, die zitternde Hand. Der Dolch saust mit melodischem Klang durch die Luft. Wo habe ich das Werfen des Dolches gelernt? In Persien? In Schuscha? Nirgends! In meinem Blute, in meinen Adern kreist das Wissen um die Linie des Fluges, die ein Dolch einschlagen muß. Von Ahnen ererbt. Vom ersten Schirwanschir, der nach Indien zog und Delhi bezwang. Ein Schrei, unerwartet dünn und hoch. Die fette Hand spreizt die Finger. Ein Blutstreifen ergießt sich über das Handgelenk. Herrlich ist das Blut des Feindes auf dem Landweg nach Mardakjany. Der Revolver fällt zu Boden. Und plötzlich hastig kriechende Bewegungen eines dicken Bauches. Ein Satz, und der Mann läuft über den Weg zum wilden Gebüsch am Straßenrand. Ich springe vom Pferd. Ich stecke den Dolch in die Scheide. Nino sitzt ganz aufrecht im weichen Polster des Wagens. Ihr Gesicht ist hart und regungslos, wie aus Stein gemeißelt. Nur der Körper zittert heftig, vom Spuk des nächtlichen Kampfes ergriffen. In der Ferne höre ich Hufschläge. Ich springe ins Gebüsch. Die scharfen Zweige packen mich, als wären sie die Hände eines unsichtbaren Feindes. Laub knirscht unter den Füßen. Die trockenen Äste zerschneiden meine Hände. Fern im Gesträuch atmet heiß das gehetzte Tier — Nachararjan. Ein Hotel in Stockholm! Dicke satte Lippen an Ninos Gesicht!