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›Nach dem Gesetze der Väter muß der Mann lebendig begraben werden‹, und das Volk rief: ›Es sei so.‹ Der Kadi war aber gerecht. ›Was kannst du zu deiner Verteidigung anführen?‹ fragte er, und der Fürst sprach: ›Nichts. Ich bin schuldig. Es ist gut, daß hier die Gesetze der Väter geachtet werden. Aber dann auch die Gesetze, die da lauten: Wer gegen den Vater kämpft, sei getötet. Ich verlange mein Recht. Meine Söhne kämpften gegen mich. Sie sollen an meinem Grabe geköpft werden.‹ — ›So sei es‹, sagte der Kadi und weinte zusammen mit dem Volk. Denn die Söhne des Fürsten waren geschätzt und angesehen. Doch das Gesetz mußte erfüllt werden. Der Verräter wurde lebendigen Leibes begraben, und seine Söhne, die besten Krieger des Landes, über seinem Grabe geköpft.«

»Fades Geschwätz«, brummte ich, »weißt du nichts Besseres? Dein Held war der letzte in diesem Lande und ist vor sechshundert Jahren gestorben, und ein Verräter war er auch.«

Kasi Mullah schnaufte verletzt.

»Weißt du nichts von Imam Schamil?«

»Ich weiß alles von Imam Schamil.«

»Unter Schamil war das Volk glücklich. Fünfzig Jahre ist es her. Das Volk war glücklich, es gab keinen Wein, es gab keinen Tabak. Dem Dieb wurde die rechte Hand abgehauen, aber es gab fast keine Diebe. Bis die Russen kamen. Da erschien der Prophet dem Imam Schamil. Der Prophet befahl den Gasawat, den Heiligen Krieg, und Schamil führte ihn. Alle Völker der Berge waren mit furchtbaren Schwüren an Schamil gebunden. Auch das Volk der Tschetschenen. Aber die Russen waren stark. Sie bedrohten die Tschetschenen. Sie verbrannten ihre Dörfer und zerstörten ihre Felder. Da fuhren die Weisen des Volkes nach Dargo, zum Sitze des Imams, um ihn anzuflehen, er möge sie von ihrem Schwur befreien. Sie sahen ihn und wagten nicht zu sprechen. Sie gingen zur Hanum, der Mutter des Imams. Die Hanum hatte ein weiches Herz. Sie weinte über das Leid der Tschetschenen. ›Ich werde dem Imam sagen, er soll euch vom Schwur befreien.‹ Die Hanum war einflußreich. Der Imam war ein guter Sohn. Einst hatte er gesagt: ›Verflucht sei, wer seiner Mutter Kummer bereitet.‹ Als die Hanum mit ihm sprach, sagte er: ›Der Koran verbietet Verrat. Der Koran verbietet, der Mutter zu widersprechen. Meine Weisheit reicht nicht mehr aus. Ich will beten und fasten, damit Allah meine Gedanken erhelle.‹ Drei Tage und drei Nächte fastete der Imam. Dann trat er vor das Volk und sprach: ›Allah verkündete mir das Gebot: der erste, der mit mir über Verrat spricht, sei zu hundert Stockhieben verurteilt. Die erste, die mit mir über Verrat sprach, war die Hanum, meine Mutter. Ich verurteile sie zu hundert Stockhieben.‹ Die Hanum wurde geholt. Die Krieger rissen ihr den Schleier herunter, warfen sie auf die Stufen der Moschee und hoben die Stöcke. Nur einen Hieb empfing die Mutter des Imams. Da fiel der Imam in die Knie, weinte und rief: ›Eisern sind die Gesetze des Allmächtigen. Keiner kann sie aufheben. Auch ich nicht. Eins läßt der Koran zu. Die Kinder können die Strafe der Eltern auf sich nehmen und so übernehme ich den Rest der Strafe.‹ Der Imam entblößte sich, legte sich vor dem ganzen Volke auf die Stufen der Moschee und rief: ›Schlagt mich, und so wahr ich Imam bin, ich köpfe euch, wenn ich merke, daß die Hiebe nicht mit voller Stärke geführt werden.‹ Neunundneunzig Hiebe empfing der Imam. Blutüberströmt lag er da. In Fetzen zerrissen war seine Haut, entsetzt blickte das Volk. Keiner wagte mehr über Verrat zu sprechen. So wurden die Berge regiert. Vor fünfzig Jahren. Und das Volk war glücklich.« Ich schwieg. Der Adler am Himmel war verschwunden. Es dämmerte. Auf dem Gebetturm der kleinen Moschee erschien der Mullah. Kasi Mullah breitete den Gebetteppich aus. Wir beteten, gen Mekka gewandt. Die arabischen Gebete klangen wie alte Kriegslieder.

»Geh jetzt, Kasi Mullah. Du bist ein Freund. Ich werde schlafen.«

Er sah mich mißtrauisch an. Seufzend mischte er die Haschischkörner. Dann ging er, und ich hörte, wie er zum Nachbar sagte:

»Kanly sehr krank!«

Und der Nachbar antwortete:

»Niemand bleibt lange krank in Daghestan.«

Ich lag am Rande des Dachhofes und blickte in den Abgrund.

Nachararjan, was machen deine Goldbarren in Schweden?

Ich schloß die Augen.

Warum schwieg Nino? Warum schwieg sie?

19. Kapitel

Frauen und Kinder zogen im Gänsemarsch durch das Dorf. Ihre Gesichter waren müde und abgespannt. Sie kamen von weit her. In der Hand hielten sie kleine Säcke. Die Säcke waren mit Erde und Dünger gefüllt. Wie einen kostbaren Schatz drückten sie die Erde an die Brust. Sie hatten sie in fernen Tälern gesammelt und Schafe, Silbermünzen und Stoffe dafür hergegeben. Sie wollten die harten Felsen ihrer Heimat mit der kostbaren Erde bestreuen, damit das karge Land Korn gebäre dem Volke zur Nahrung.

Schräg über dem Abgrund hingen die Felder. An einer Kette angebunden, ließen sich die Menschen auf die kleine Fläche hinabgleiten. Vorsichtige Hände streuten behutsam die Erde auf den felsigen Boden. Eine rohe Mauer wurde über den künftigen Feldern errichtet, um das dünne Erdreich vor Wind und Lawinen zu schützen. So entstanden Äcker inmitten der verwitterten zackigen Felsen Daghestans. Drei Schritt breit, vier Schritt lang. Kostbarstes Gut dieses Volkes der Berge. Frühmorgens zogen die Männer auf die Felder. Lange betete der Bauer, bevor er sich über die gute Erde beugte. Bei großem Wind holten die Frauen ihre Decken und breiteten sie über das teure Land. Sie liebkosten die Saat mit ihren schmalen, braunen Händen und schnitten mit kleinen Sensen die spärlichen Halme ab. Sie zerrieben die Körner und buken flache, längliche Brote. In das erste Brot wurde eine Münze gelegt, als Dank des Volkes an das Wunder der Saat.

Ich ging an der Mauer des kleinen Ackers entlang. Oben auf den Feldern stolperten die Schafe herum. Ein Bauer mit breitem, weißem Filzhut kam auf zweirädrigem Karren daher gefahren. Die Räder des Karrens quietschten wie schreiende Säuglinge. Weithin hörte man das durchdringende Geräusch.

»Brüderchen«, sagte ich, »ich werde nach Baku schreiben, damit man dir Öl schickt. Du solltest die Achsen deines Karrens schmieren.«

Der Bauer grinste.

»Ich bin ein einfacher Mensch, ich verberge mich nicht. Jeder kann hören, daß mein Karren naht. Deshalb schmiere ich nie die Achsen. Das tun nur die Abreken.«

»Die Abreken?«

»Ja, die Abreken, die Ausgestoßenen.«

»Gibt es noch viele Abreken?«

»Es gibt ihrer genug. Sie sind Räuber und Mörder. Manche morden zum Wohl des Volkes. Manche zum eigenen Nutzen. Aber jeder muß einen schrecklichen Schwur leisten.«

»Was für einen Schwur?«

Der Bauer hielt den Karren an und stieg aus. Er lehnte sich an die Mauer seines Feldes. Er holte salzigen Schafkäse hervor und zerbrach ihn mit seinen langen Fingern. Ich bekam ein Stück. Dunkle Schafhaare steckten in der zähen Käsemasse. Ich aß.

»Der Schwur des Abreken. Du kennst ihn nicht? Um Mitternacht schleicht der Abreke in die Moschee und schwört:

›Ich schwöre bei dem heiligen Ort, den ich verehre, von heute ab ein Ausgestoßener zu sein. Ich will Menschenblut vergießen und mit niemandem Erbarmen haben. Ich werde die Menschen verfolgen. Ich schwöre, ihnen alles zu rauben, was ihrem Herzen, ihrem Gewissen, ihrer Ehre teuer ist. Ich werde den Säugling an der Mutterbrust erdolchen, die letzte Hütte des Bettlers in Flammen setzen und überallhin, wo bis jetzt Freude herrschte, den Kummer bringen. Wenn ich diesen Schwur nicht erfülle, wenn Liebe oder Mitleid mein Herz beschleichen, so möge ich nie das Grab meines Vaters erblicken, möge das Wasser nie meinen Durst und das Brot nie meinen Hunger stillen, möge meine Leiche auf dem Wege liegenbleiben, und ein schmutziger Hund seine Notdurft an ihr verrichten.‹«