Nino zögerte eine Weile, dann hob sie den Kopf und sagte stolz und entschlossen:
»Ich gedenke, meinen Glauben beizubehalten.«
Seyd schrieb. Der Bogen glitt über seine Handfläche und bedeckte sich mit schöngeschwungenen arabischen Lettern. Der Ehekontrakt war fertig.
»Unterschreibt«, sagte Seyd.
Ich setzte meinen Namen darunter.
»Welchen Namen muß ich nun schreiben?« fragte Nino.
»Ihren neuen.«
Sie schrieb mit fester Hand: »Nino Hanum Schirwanschir.«
Dann folgten die Zeugen, Seyd Mustafa zog sein Namenssiegel hervor und drückte es auf das Papier. In schönster Kufi-Schrift stand da geschrieben: »Hafis Seyd Mustafa Meschedi, Sklave des Herrn der Welt.« Er überreichte mir das Dokument.
Dann umarmte er mich und sagte auf Persisch:
»Ich bin kein guter Mensch, Ali Khan. Aber Arslan Aga hat mir erzählt, daß du ohne Nino in den Bergen verkommst und dich dem Trunke ergibst. Das ist eine Sünde. Nino bat, sie hierherzubringen. Wenn es wahr ist, was sie sagte, dann liebe sie. Wenn es nicht wahr ist, töten wir sie morgen.«
»Es ist nicht mehr wahr, Seyd Mustafa, aber wir töten sie dennoch nicht.«
Er blickte verblüfft drein, sah sich im Zimmer um und lachte.
Eine Stunde später wurde die Haschischpfeife feierlich in den Abgrund versenkt.
Das war die ganze Hochzeit.
Unerwarteterweise begann das Leben wieder schön zu werden. Sogar sehr schön. Das Dorf lächelte, wenn ich über die Straße ging, und ich lächelte zurück, denn ich war glücklich. Frühmorgens sah ich, wie Nino barfuß und mit leerem Tonkrug in der Hand zum Bach eilte. Sie kehrte zurück, die nackten Fersen vorsichtig auf das kantige Gestein setzend. Den Wasserkrug trug sie auf der rechten Schulter. Ihre schmale Hand umklammerte fest das Gefäß. Nur einmal, ganz zu Anfang, stolperte sie und ließ den Krug fallen. Sie weinte bitterlich über die Schande. Nachbarfrauen trösteten sie. Täglich holte Nino das Wasser. Zusammen mit allen Frauen des Dorfes. Im Gänsemarsch gingen die Frauen den Berg hinauf, und ich sah von weitem Ninos nackte Beine und ernst nach vorne gerichtete Blicke. Mich sah sie nicht an, und auch ich blickte an ihr vorbei. Sie erfaßte sofort das Gesetz der Berge. Nie, unter keinen Umständen, vor andern Leuten seine Liebe zeigen. Sie kam in die dunkle Hütte, schloß die Tür und setzte den Krug auf den Boden. Sie reichte mir das Wasser. Aus der Ecke holte sie Brot, Käse und Honig. Wir aßen mit den Händen, wie alle Leute im Aul, wir saßen auf dem Boden, und Nino erlernte bald die schwere Kunst des Sitzens mit gekreuzten Beinen. Nach dem Essen leckte Nino ihre Finger ab und zeigte dabei ihre weißen, glänzenden Zähne.
»Nach hiesiger Sitte«, sagte sie, »muß ich dir jetzt die Füße waschen. Da wir aber allein sind und ich zum Bach gelaufen bin, wirst du mir die Füße waschen.«
Ich setzte die kleinen, lustigen Spielzeuge, die sie Füße nannte, ins Wasser, und sie plätscherte darin herum, daß mir die Tropfen ins Gesicht spritzten. Dann gingen wir auf den Dachhof. Ich saß auf den Kissen, und Nino zu meinen Füßen. Manchmal summte sie ein Lied, manchmal schwieg sie, ihr Madonnengesicht mir zugewandt. Ich fühlte mich sehr wohl. So wohl wie noch nie. Am liebsten hätte ich mein ganzes Leben hier auf dem Dachhof verbracht. Allein mit Nino, die so kleine Füße hatte und knallrote, daghestanische Pumphosen trug. Nichts verriet an ihr, daß sie gewohnt war, anders zu leben, zu denken und zu handeln als alle andern Frauen im Aul.
Kein Mensch im Dorf hatte Diener, und sie weigerte sich auch, Dienerschaft aufzunehmen. Sie bereitete das Essen, plauderte mit den Nachbarsfrauen und erzählte mir die kleinen Klatschgeschichten des Dorfes. Ich ritt, ging auf die Jagd, brachte ihr das erlegte Wild und aß die seltsamen Speisen, die ihre Phantasie schuf und ihr Geschmack sofort verwarf.
Einmal fuhr ich nach Chunsach. Ich kehrte zurück, mit Erzeugnissen der Kultur beladen: einer Petroleumlampe, einer Laute, einem Grammophon und einem Seidenschal… Ihre Augen verklärten sich, als sie das Grammophon sah. Leider waren in ganz Chunsach nur zwei Platten aufzutreiben. Ein Bergtanz und eine Arie aus »Ai’da«. Wir spielten sie abwechselnd, bis sie voneinander nicht mehr zu unterscheiden waren. Nachts kauerte sie unter der Decke wie ein kleines Tierchen.
»Bist du glücklich, Ali Khan?«
»Sehr. Und du? Willst du nicht nach Baku?«
»Nein«, sagte sie ernst, »ich will zeigen, daß ich dasselbe kann, was alle Frauen Asiens können: ihrem Mann dienen.«
Aus Baku kamen spärliche Nachrichten. Ninos Eltern flehten uns an, in ein besseres Land zu ziehen, oder drohten, uns zu verfluchen. Ninos Vater kam einmal heraus. Er wurde rasend, als er die Hütte seiner Tochter sah.
»Um Gottes Willen, reist sofort ab, Nino wird krank in dieser Wildnis.«
»Ich war nie so gesund wie jetzt, Vater«, sagte Nino, »wir können nicht weg. Ich will noch nicht Witwe werden.«
»Aber es gibt ja noch neutrales Ausland, wo kein Nachararjan hinkommt. Spanien zum Beispiel.«
»Aber Vater, wie kommt man jetzt nach Spanien?«
»Über Schweden.«
»Ich fahre nicht über Schweden«, sagte Nino wütend. Der Fürst fuhr ab und sandte allmonatlich Wäsche, Kuchen und Bücher. Nino behielt die Bücher und verschenkte den Rest. Auch mein Vater kam heraus. Nino empfing ihn mit einem schüchternen Lächeln. So hatte sie in der Schule vor einem Gleichnis mit vielen Unbekannten gelächelt. Das Gleichnis war bald gelöst.
»Du kochst?«
»Ja.«
»Du holst das Wasser?«
»Ja.«
»Ich bin müde vom Weg, kannst du mir die Füße waschen?«
Sie holte den Topf und wusch ihm die Füße.
»Danke«, sagte er und griff zur Tasche. Er holte eine lange Kette rosiger Perlen hervor und legte sie Nino um den Hals. Dann speiste er und stellte fest:
»Du hast eine gute Frau, Ali Khan, aber eine schlechte Köchin. Ich schicke dir einen Koch aus Baku.«
»Bitte nicht«, rief Nino, »ich will meinem Mann dienen.«
Er lachte und schickte ihr aus der Stadt zwei Ohrringe mit großen Brillanten.
Es war friedlich in unserem Dorf. Nur einmal kam Kasi Mullah mit der großen Nachricht gelaufen: am Rande des Dorfes hatte man einen Fremden ergriffen. Offensichtlich einen Armenier. Bewaffnet. Das ganze Dorf lief zusammen. Ich war Gast des Auls. Mein Tod wäre ewige Schande auf der Ehre jedes einzelnen Bauern gewesen. Ich ging hinaus, um mir den Mann anzuschauen. Es war ein Armenier. Doch niemand wußte, ob er ein Nachararjan war. Die Dorfweisen kamen, berieten und fällten den Beschluß: den Mann zu verprügeln und aus dem Dorfe zu treiben. Sollte er ein Nachararjan sein, so würde er die andern warnen. Sollte er keiner sein, so würde Gott die gute Absicht der Bauern erkennen und ihnen vergeben.
Abends, wenn die Petroleumlampe erlosch, lag Nino neben mir und starrte in die Dunkelheit. Sie stellte lange Betrachtungen an: Ob es wirklich notwendig sei, in den Hammelbraten soviel Knoblauch zu geben, ob der Dichter Rustaveli mit der Königin Tamar ein Verhältnis gehabt habe? Was sie tun solle, wenn sie plötzlich im Dorf Zahnschmerzen bekäme? Und warum wohl die Nachbarin gestern ihren Mann mit dem Besen so schrecklich verprügelt habe?
»Das Leben birgt so viele Geheimnisse«, sagte sie bekümmert und schlief ein. Nachts wachte sie auf, stieß sich an meinem Ellbogen und brummte sehr stolz und überheblich: »Ich bin Nino«, dann schlief sie weiter, und ich bedeckte ihre schmalen Schultern mit der Decke.
Nino, dachte ich, eigentlich hast du Besseres verdient, als in einem Dorf in Daghestan zu leben.
Irgendwo auf einem andern Planeten tobte der Krieg. Wir wußten nichts davon. Die Berge waren erfüllt von Märchen aus den Zeiten Schamiis. Kriegsberichte erreichten uns nicht. Manchmal schickten uns Freunde Zeitungen. Ich las nie eine Zeile.
»Weißt du noch, daß Krieg ist?« fragte Nino einmal.