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Ich lachte:

»Wirklich, Nino, ich habe es beinahe vergessen.«

Nein, es konnte kein besseres Leben geben, auch wenn es nur ein Spiel war zwischen Vergangenheit und Zukunft. Zufälliges Geschenk Gottes an Ali Khan Schirwanschir.

Da kam der Brief. Vom Reiter auf schaumbedecktem Pferd ins Haus gebracht. Nicht vom Vater und nicht vom Seyd. »Arslan Aga an Ali Khan« stand auf dem Brief.

»Was will er«, fragte Nino verwundert.

Der Reiter sagte:

»Es ist viel Post für Sie unterwegs. Arslan Aga gab mir viel Geld, damit Sie zuerst von ihm die Nachricht erfahren.«

Es ist aus mit dem Leben im Aul, dachte ich und öffnete den Brief. Ich las:

»Im Namen Gottes. Ich grüße Dich, Ali Khan. Wie geht es Dir, Deinen Pferden, Deinem Wein, Deinen Schafen und den Menschen, mit denen Du lebst? Auch mir geht es gut, auch meinen Pferden, meinem Wein und meinen Leuten. Wisse: Großes hat sich in unserer Stadt ereignet. Die Zuchthäusler gingen aus dem Gefängnis weg und spazieren jetzt in den Straßen. ›Wo bleibt denn die Polizei?‹ hör ich Dich fragen. Doch siehe — die Polizei sitzt jetzt dort, wo früher die Zuchthäusler saßen. Im Gefängnis am Meer. Und die Soldaten? Es gibt keine Soldaten. Ich sehe, mein Freund, Du schüttelst den Kopf und denkst Dir, wieso unser Gouverneur solches zuläßt. Erfahre also: unser weiser Gouverneur ist gestern weggelaufen. Er wurde müde, so schlechte Leute zu regieren. Er hinterließ einige Paar Hosen und eine alte Kokarde. Jetzt lachst Du, Ali Khan, und denkst, daß ich lüge. Staune, mein Freund, ich lüge nicht. Ich sehe, wie Du fragst: ›Ja, warum schickt denn der Zar keine neue Polizei und keinen neuen Gouverneur?‹ Erfahre also: es gibt keinen Zaren mehr. Es gibt überhaupt nichts mehr. Ich weiß noch nicht, wie das Ganze heißt, aber wir haben gestern den Schuldirektor verprügelt und niemand hinderte uns daran. Ich bin Dein Freund, Ali Khan, deshalb will ich, daß Du es zuerst durch mich erfährst, obwohl viele in dieser Stadt Dir heute schreiben. Erfahre also: alle Nachararjans sind nach Hause gefahren, und Polizei gibt es nicht mehr. Friede sei mit Dir, Ali Khan. Ich bin Dein Freund und Diener Arslan Aga.«

Ich blickte auf. Nino war plötzlich sehr blaß geworden.

»Ali Khan«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte, »der Weg ist frei, wir fahren, wir fahren, wir fahren!«

Von einer seltsamen Ekstase ergriffen, wiederholte sie nur dieses eine Wort. Sie fiel mir um den Hals und schluchzte. Ihre nackten Füße strampelten ungeduldig im Sande des Hofes.

»Ja, Nino, natürlich fahren wir.«

Ich war froh und traurig zugleich. Die Berge glänzten in der gelben Pracht ihrer kahlen Felsen. Die Hütten glichen Bienenkörben, und der kleine Gebetturm lockte in stummer Mahnung.

Es war aus mit dem Leben im Aul.

21. Kapitel

Glück und Angst mischten sich in den Gesichtern der Menschen. Quer über die Straßen hingen scharlachrote Transparente mit sinnlosen Aufschriften. Marktweiber standen an den Ecken und verlangten die Freiheit für die Indianer Amerikas und die Buschleute in Afrika. Die Front flutete zurück. Der Großfürst war verschwunden, und Scharen zerlumpter Soldaten lungerten in der Stadt herum. Nachts wurde geschossen, und am Tage plünderte die Menge die Läden.

Nino beugte sich über den Atlas.

»Ich suche ein friedliches Land«, sagte sie, und ihr Finger glitt über die bunten Grenzlinien.

»Vielleicht Moskau. Oder Petersburg«, sagte ich spöttisch. Sie zuckte die Achseln. Ihre Finger entdeckten Norwegen.

»Sicher ein friedliches Land«, sagte ich, »aber wie kommt man hin?«

»Man kommt nicht hin«, seufzte Nino.

»Amerika?«

»U-Boote«, sagte ich heiter.

»Indien, Spanien, China, Japan?«

»Entweder Krieg, oder man kommt nicht hin.«

»Ali Khan, wir sind in der Mausefalle.«

»Du hast es erkannt, Nino. Es ist sinnlos zu fliehen. Wir müssen uns überlegen, wie wir unsere Stadt zur Vernunft bringen, wenigstens bis die Türken da sind.«

»Wozu habe ich einen Helden zum Mann!« sagte Nino vorwurfsvoll. »Ich habe eine Abneigung gegen Transparente, Aufrufe und Reden. Wenn es so weitergeht, fliehe ich zu deinem Onkel nach Persien.«

»Es geht nicht so weiter«, sagte ich und verließ das Haus.

Im Saale des islamischen Wohltätigkeitsvereines tagte eine Versammlung. Die besseren Herren, die einst im Hause meines Vaters sich um die Zukunft des Volkes sorgten, waren abwesend. Junge Leute mit guten Muskeln füllten den Raum. In der Tür traf ich Iljas Beg. Er und Mehmed Haidar waren von der Front zurückgekehrt. Der Thronverzicht des Zaren hatte sie von ihrem Eid befreit, und sie erschienen in der Stadt, braungebrannt, stolz und kraftstrotzend. Der Krieg war ihnen gut bekommen. Sie glichen Menschen, die den Blick in eine andere Welt geworfen haben und das Bild dieser andern Welt für immer in ihren Herzen tragen.

»Ali Khan«, sagte Iljas Beg, »wir müssen handeln. Der Feind steht an der Pforte der Stadt.«

»Ja, wir müssen uns verteidigen.«

»Nein, wir müssen angreifen.«

Er ging zur Tribüne. Er sprach laut und im Kommandoton:

»Mohammedaner! Ich will noch einmal die Lage unserer Stadt darstellen. Seit dem Beginn der Revolution bröckelt die Front auseinander. Russische Deserteure aller Parteirichtungen, bewaffnet und raublustig, lagern vor Baku. In der Stadt gibt es nur eine einzige mohammedanische militärische Formation. Das sind wir, die Freiwilligen der ›Wilden Division‹. Wir sind den Russen zahlenmäßig und was die Munition anlangt unterlegen. Die zweite Kampfeinheit in unserer Stadt ist der Militärbund der armenischen nationalistischen Partei ›Daschnaktütün‹. Die Führer dieser Partei, Stepa Lalai und Andronik, haben sich mit uns in Verbindung gesetzt. Sie bilden aus den armenischen Einwohnern der Stadt eine Armee, die nach Karabagh und Armenien gebracht werden soll, um diese Länder zu schützen. Wir haben den Plan der Bildung dieser Armee sowie ihres Ausmarsches nach Armenien gebilligt. Dafür richten die Armenier gemeinsam mit uns ein Ultimatum an die Russen. Wir verlangen, daß russische Soldaten und Flüchtlinge nicht mehr über unsere Stadt geleitet werden. Lehnen die Russen unser Angebot ab, so sind wir, vereint mit den Armeniern, in der Lage, unsere Forderungen auf militärischem Wege durchzusetzen. Mohammedaner, tretet der ›Wilden Division‹ bei, ergreift die Waffen. Der Feind steht vor der Tür.«

Ich hörte zu. Es roch nach Kampf und Blut. Seit vielen Tagen übte ich im Hofe der Kaserne die Handhabung des Maschinengewehres. Nun sollte das neue Wissen eine nützliche Anwendung finden. Mehmed Haidar stand neben mir und spielte mit dem Patronengurt. Ich beugte mich zu ihm.

»Komm nach der Versammlung mit Iljas zu mir. Auch Seyd Mustafa wird dasein. Wir wollen die Lage besprechen.«

Er nickte. Ich ging heim. Nino sorgte hausfraulich für den Tee. Die Freunde kamen bald. Sie waren bewaffnet, selbst hinter dem grünen Gurt des Seyds steckte ein Dolch. Eine merkwürdige Stille war in uns. Die Stadt am Vorabend des Kampfes war bedrückend und fremd. Noch gingen die Menschen durch die Straßen, ihren Geschäften nach oder spazieren. Ihr Treiben hatte aber etwas Unwirkliches, Gespensterhaftes, als hätten sie bereits eine Vorahnung von der baldigen Sinnlosigkeit ihres alltäglichen Tuns.

»Habt ihr genug Waffen?« fragte Iljas Beg.

»Fünf Gewehre, acht Revolver, ein Maschinengewehr und Munition. Außerdem ist ein Keller da für die Frauen und Kinder.«

Nino hob plötzlich den Kopf.

»Ich gehe nicht in den Keller«, sagte sie fest, »auch ich werde mein Haus verteidigen.«

Sie sprach hart und verbissen.

»Nino«, antwortete Mehmed Haidar ruhig, »wir werden schießen, und Sie werden die Wunden verbinden.«

Da senkte Nino die Augen. Ihre Stimme klang gepreßt:

»Mein Gott, unsere Straßen werden zu Schlachtfeldern. Das Theater zum Generalstabsquartier. Es wird bald schwerer sein, über die Nikolaistraße zu gehen, als früher nach China zu reisen. Um zum Lyzeum der Königin Tamar zu gelangen, wird man entweder die Weltanschauung ändern oder eine Armee besiegen müssen. Ich sehe euch bewaffnet auf dem Bauch durch den Gouverneursgarten kriechen, und am Bassin, wo ich mich früher mit Ali Khan traf, wird ein Maschinengewehr aufgestellt sein. Wir wohnen in einer seltsamen Stadt.«