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Es war ein Uhr. Vom Gebetturm sang Seyd Mustafa klagend und feierlich sein Gebet. Dann kam er zu uns, ein Gewehr unbeholfen hinter sich herschleifend. In seinem Gurt steckte der Koran. Ich blickte auf den Dumaplatz jenseits der Mauer. Ich sah Staub und einige ängstlich gebückte Gestalten, die rasch über den Platz eilten. Eine verschleierte Frau lief schimpfend und stolpernd ihren Kindern nach, die auf dem Platz spielten.

Eins, zwei, drei. Der Schlag der Rathausglocke durchbrach dröhnend die Stille. Und zu gleicher Zeit, als ob diese Glockenschläge geheimnisvoll die Tür in eine andere Welt geöffnet hätten, ertönten, vom Rande der Stadt kommend, die ersten Schüsse…

22. Kapitel

Die Nacht war mondlos. Das Segelboot glitt über die trägen Wellen des Kaspischen Meeres. Kleine Wasserspritzer schlugen zuweilen über Bord und waren bitter und salzig. Das schwarze Segel glich in der Nacht dem ausgebreiteten Flügel eines großen Vogels.

Ich lag auf dem durchnäßten Boden des Bootes, in Schafspelze gehüllt. Der Bootsmann, ein Tekine mit breitem, bartlosem Gesicht, blickte gleichgültig in die Sterne. Ich hob den Kopf, und meine Hand glitt über das Schafsfell.

»Seyd Mustafa…?« fragte ich.

Der Pockennarbige beugte sich zu mir. Der Rosenkranz aus roten Steinen glitt durch seine Finger… Es war, als ob die gepflegte Hand des Seyd mit Blutstropfen spielte.

»Lieg ruhig, Ali Khan, ich bin es«, sagte er. Ich sah Tränen in seinen Augen und erhob mich.

»Mehmed Haidar ist tot«, sagte ich, »ich sah seine Leiche an der Nikolaistraße. Ohren und Nase waren abgeschnitten.«

»Die Russen kamen von Bailow und umzingelten die Strandpromenade. Du hast die Leute vom Dumaplatz weggefegt.«

»Ja«, erinnerte ich mich, »und dann kam Assadullah und befahl Attacke. Wir gingen mit Bajonetten und Dolchen vor. Du sangst das Gebet ›Ya sin‹.«

»Und du — du trankst das Blut der Feinde. Weißt du, wer an der Aschum-Ecke stand? Die ganze Sippe der Nachararjans. Die sind hin.«

»Die sind hin«, wiederholte ich, »ich hatte acht Maschinengewehre auf dem Dach des Aschum-Hauses aufgestellt. Wir beherrschten die ganze Gegend…«

Seyd Mustafa rieb sich die Stirn. Sein Gesicht war wie mit Asche bestreut.

»Es knatterte da oben den ganzen Tag. Jemand sagte, du seist tot. Nino hörte es auch, aber sie schwieg. Sie wollte nicht in den Keller gehen. Sie saß im Zimmer und schwieg. Sie schwieg, und die Maschinengewehre knatterten. Plötzlich bedeckte sie das Gesicht mit den Händen und schrie: ›Ich will nicht mehr, ich will nicht mehr‹, und die Maschinengewehre knatterten. Bis acht Uhr abends. Dann war die Munition zu Ende. Aber der Feind wußte es nicht. Er dachte, es sei eine List. Musa Nagi ist auch tot. Lalai hat ihn erwürgt…«

Ich blieb stumm. Der Tekine aus der Wüste des roten Sandes starrte in die Sterne. Sein bunter Seidenkaftan flatterte im leichten Wind.

Seyd sagte: »Ich hörte, daß du im Handgemenge warst, an der Pforte Zizianaschwilis. Aber ich habe es nicht gesehen. Ich war am andern Ende der Mauer.«

»Ich war im Handgemenge. Es war da eine schwarze Lederjoppe. Ich durchbohrte sie mit dem Dolch, und sie wurde rot. Aische, die Kusine, ist auch tot.«

Das Wasser war glatt. Im Boot roch es nach Teer. Das Boot war namenlos, wie die Küsten an der Wüste des roten Sandes. Seyd sprach leise: »Wir aus den Moscheen, wir legten Leichengewänder an. Dann nahmen wir Dolche und stürzten uns auf den Feind. Fast alle sind tot. Mich ließ Gott nicht sterben. Auch Iljas lebt. Er verbirgt sich auf dem Lande. Wie euer Haus geplündert wurde! Kein Teppich, kein Möbelstück, kein Geschirr ist übriggeblieben. Nur die nackten Wände.«

Ich schloß die Augen. Alles in mir war ein einziger Schmerz. Ich sah Karren mit Leichen und Nino mit einem Bündel Sachen, nachts am öldurchtränkten Ufer von Bibi-Eibat. Das Boot mit dem Mann aus der Wüste legte an. Von der Insel Nargin leuchtete der Turm. Die nächtliche Stadt verschwand im Dunkeln. Die schwarzen Bohrtürme blickten wie drohende Wächter…

Nun lag ich in Schafsfell gehüllt, und dumpfer Schmerz zerriß meine Brust. Ich erhob mich. Unter einem kleinen Verdeck lag Nino. Ihr Gesicht war schmal und sehr blaß. Ich nahm ihre kalte Hand und fühlte das leise Beben ihrer Finger.

Hinter uns, neben dem Bootsmann, saß mein Vater. Ich hörte abgerissen Sätze:

»… und Sie meinen also wirklich, daß man in der Oase Tschardschui willkürlich die Farbe der Augen verändern kann?«

»Ja, Khan. Auf der ganzen Welt gibt es nur einen Ort, wo die Menschen das können — die Oase Tschardschui. Ein heiliger Mann hat prophezeit…«

»Nino«, sagte ich, »mein Vater unterhält sich über die Wunder der Oase Tschardschui. So muß man sein, um diese Welt zu ertragen.«

»Ich kann es nicht«, sagte Nino, »ich kann es nicht. Ali Khan, der Staub auf der Straße war rot von Blut.«

Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen und weinte lautlos. Ihre Schultern zitterten… Ich saß neben ihr und dachte an den Platz vor der großen Mauer, an die Leiche Mehmed Haidars, die in der Nikolaistraße lag, und an die schwarze Lederjoppe, die plötzlich rot wurde.

Es tat weh, am Leben zu sein.

Weit weg klang die Stimme des Vaters:

»Auf der Insel Tscheieken soll es Schlangen geben?«

»Ja, Khan, ungeheuer lange, giftige Schlangen. Aber keines Menschen Auge hat sie je gesehen. Nur ein Heiliger aus der Oase Merw hat einmal erzählt…«

Ich hielt es nicht mehr aus. Ich ging zum Steuer und sagte:

»Vater, Asien ist tot, unsere Freunde sind gefallen und wir vertrieben. Gott zürnt uns, und du sprichst über die Schlangen auf der Insel Tscheieken.«

Des Vaters Gesicht blieb ruhig. Er lehnte sich an den kleinen Mast und sah mich lange an.

»Asien ist nicht tot. Nur seine Grenzen haben sich verschoben. Für immer. Baku ist jetzt Europa. Und es ist kein Zufall. Es gab in Baku keine Asiaten mehr.«

»Vater, ich habe drei Tage lang mit Maschinengewehr, Bajonett und Dolch unser Asien verteidigt.«

»Du bist ein tapferer Mann, Ali Khan. Aber was ist Mut? Auch Europäer sind mutig. Du und alle, die mit dir kämpften, ihr seid ja keine Asiaten mehr. Ich hasse Europa nicht. Mir ist Europa gleichgültig. Du haßt es, weil du selbst ein Stück Europa in dir trägst. Du besuchtest eine russische Schule, du kannst Latein, du hast eine europäische Frau. Bist du noch ein Asiat? Hättest du gesiegt, würdest du selbst, ohne es zu wollen, Europa in Baku eingeführt haben. Es ist ja gleich, ob wir oder die Russen die neuen Autostraßen bauen und Fabriken errichten. Es ging nicht mehr anders. Man ist noch lange kein guter Asiat, wenn man mit viel Blutdurst zahlreiche Feinde umbringt.«

»Wann ist man es denn?«

»Du bist ein halber Europäer, Ali Khan, deshalb fragst du so. Es hat keinen Sinn, es dir zu erklären, denn nur das Sichtbare wirkt auf dich. Dein Antlitz ist der Erde zugewandt. Deshalb schmerzt dich die Niederlage, und deshalb zeigst du deinen Schmerz.«

Mein Vater schwieg. Seine Blicke waren wie verhängt. Wie alle älteren Leute in Baku und in Persien kannte er außer der Welt der Wirklichkeit noch eine zweite Welt, eine Hinterwelt und Traumwelt, in die er sich zurückziehen konnte und in der er unangreifbar war. Ich ahnte diese Welt der fast jenseitigen Ruhe, in der es möglich war, Freunde zu begraben und sich gleichzeitig mit einem Bootsmann über die Wunder der Oase Tschardschui zu unterhalten. Ich pochte an ihrer Pforte und fand keinen Einlaß. Ich war zu sehr befangen in der schmerzhaften Wirklichkeit.

Ich selber war kein Asiate mehr. Keiner warf es mir vor, aber alle schienen es zu wissen. Ich war ein Fremder geworden und sehnte mich danach, wieder beheimatet zu werden in der Traumwelt Asiens.