Innerhalb der Mauer waren die Häuser eng und krumm wie die Klingen der orientalischen Degen. Gebettürme der Moscheen durchstachen den milden Mond und waren ganz anders als die Bohrtürme des Hauses Nobel. An der östlichen Mauer der alten Stadt erhob sich der Mädchenturm. Mehmed Jussuf Khan, Herrscher zu Baku, erbaute ihn zu Ehren seiner Tochter, die er ehelichen wollte. Die Ehe wurde nicht vollzogen. Die Tochter stürzte sich vom Turm, als der liebesgierige Vater die Treppe zu ihrem Gemach emporeilte. Der Stein, an der ihr Mädchenhaupt zerschellte, heißt der Stein der Jungfrau. Bräute bringen ihm vor der Hochzeit manchmal Blumen dar.
Viel Blut rann durch die Gassen unserer Stadt — Menschenblut. Und dieses vergossene Blut macht uns stark und tapfer.
Dicht vor unserem Haus erhebt sich die Pforte des Fürsten Zizianaschwili, und auch hier floß einmal Blut, schönes, edles Menschenblut. Es war vor Jahren, als unser Land noch zu Persien gehörte und dem Gouverneur von Aserbaidschan tributpflichtig war. Der Fürst war General in der Armee des Zaren und belagerte unsere Stadt. In der Stadt herrschte Hassan Kuli Khan. Er öffnete die Tore der Stadt, ließ den Fürsten herein und erklärte, er ergebe sich dem großen, weißen Zaren. Der Fürst ritt, nur von wenigen Offizieren begleitet, in die Stadt hinein. Auf dem Platze hinter dem Tor wurde ein Gelage veranstaltet. Scheiterhaufen brannten, ganze Ochsen wurden am Spieß geröstet. Fürst Zizianaschwili war bezecht, er legte sein müdes Haupt auf die Brust Hassan Kuli Khans. Da zog mein Urahne, Ibrahim Khan Schirwanschir, einen großen, krummen Dolch und reichte ihn dem Herrscher. Hassan Kuli Khan nahm den Dolch und durchschnitt langsam die Kehle des Fürsten. Blut spritzte auf sein Gewand, aber er schnitt weiter, bis der Kopf des Fürsten in seiner Hand blieb. Der Kopf wurde in einen Sack mit Salz gelegt, und mein Ahne brachte ihn nach Teheran zum König der Könige. Der Zar aber beschloß, den Mord zu rächen. Er sandte viele Soldaten. Hassan Kuli Khan schloß sich im Palast ein, betete und dachte an das Morgen. Als die Soldaten des Zaren über die Mauer stiegen, floh er durch den unterirdischen Gang, der heute verschüttet ist, ans Meer und dann nach Persien. Bevor er den unterirdischen Gang betrat, schrieb er an die Eingangstüre einen einzigen, aber sehr weisen Satz: »Wer an morgen denkt, kann nie tapfer sein.«
Auf dem Heimweg von der Schule streifte ich oft durch den zerfallenden Palast. Seine Gerichtshalle mit den mächtigen maurischen Säulengängen liegt öde und verlassen da. Wer in unserer Stadt Recht sucht, muß zum russischen Richter außerhalb der Mauer gehen. Das tun aber nur wenige Querulanten. Nicht etwa, weil die russischen Richter schlecht oder ungerecht wären. Sie sind milde und gerecht, aber auf eine Art, die unserem Volke nicht behagt. Ein Dieb kommt ins Gefängnis. Er sitzt dort in einer sauberen Zelle, bekommt Tee, ja sogar Zucker zum Tee. Niemand hat etwas davon, am wenigsten der Bestohlene. Das Volk zuckt darüber die Achseln und macht sich sein Recht selber. Am Nachmittag kommen die Kläger in die Moschee, die weisen Alten sitzen im Kreis und richten nach dem Gesetze der Scharia, nach dem Gesetze Allahs: »Aug um Aug, Zahn um Zahn.« In der Nacht huschen manchmal durch die Gassen vermummte Gestalten. Ein Dolch blitzt auf, ein kleiner Schrei, und die Gerechtigkeit ist vollzogen. Blutfehden ziehen sich von Haus zu Haus. Doch selten läuft jemand zum russischen Richter, und tut er es, so verachten ihn die Weisen, und die Kinder strecken ihm auf der Straße die Zunge heraus.
Manchmal wird durch die nächtlichen Gassen ein Sack getragen. Aus dem Sack tönt unterdrücktes Stöhnen. Am Meer ein leises Aufplätschern, der Sack verschwindet. Am nächsten Tag sitzt dann ein Mann auf dem Boden seines Zimmers, sein Gewand ist zerfetzt, sein Auge voll Tränen, er hat das Gesetz Allahs erfüllt — der Ehebrecherin den Tod.
Viele Geheimnisse birgt unsere Stadt. Ihre Winkel sind voll seltsamer Wunder. Ich liebe diese Wunder, diese Winkel, das nächtlich raunende Dunkel und das stumme Meditieren an den glutstillen Nachmittagen im Hofe der Moschee. Gott hat mich hier zur Welt kommen lassen als Muslim schiitischer Lehre, der Glaubensrichtung des Imam Dschafar. So er mir gnädig ist, möge er mich hier auch sterben lassen, in derselben Straße, in demselben Haus, in dem ich zur Welt kam. Mich und Nino, die eine georgische Christin ist, mit Messer und Gabel ißt, lachende Augen hat und dünne, duftige Seidenstrümpfe trägt.
3. Kapitel
Die Galauniform der Abiturienten hatte einen silberbetreßten Kragen. Die silberne Schnalle des Gurtes und die silbernen Knöpfe waren blankgeputzt. Der steife, graue Stoff noch warm vom Bügeleisen. Wir standen barhäuptig und still im großen Saal des Gymnasiums. Der feierliche Akt der Prüfung begann, indem wir alle den Gott der orthodoxen Kirche um Hilfe anflehten, wir vierzig, unter denen nur zwei der Staatskirche angehörten.
Der Pope im schweren Gold des festlichen Kirchengewandes, mit langen, duftenden Haaren, das große, goldene Kreuz in der Hand, begann das Gebet. Der Saal füllte sich mit Weihrauch, die Lehrer und die zwei Anhänger der Staatskirche knieten nieder.
Die Worte des Popen, im singenden Tonfall der orthodoxen Kirche gesprochen, klangen dumpf in unseren Ohren. Wie oft haben wir das, teilnahmslos und gelangweilt, im Laufe dieser acht Jahre gehört:
»… Für den Allerfrömmsten, Allermächtigsten, Allerchristlichsten Herrscher und Kaiser Nikolaus II. Alexandrowitsch Gottes Segen… und für alle Seefahrenden und Reisenden, für alle Lernenden und Leidenden, und für alle Krieger, die auf dem Felde der Ehre ihr Leben für Glauben, Zar und Vaterland gelassen, und für alle orthodoxen Christen Gottes Segen…«
Gelangweilt starrte ich auf die Wand. Dort hing im breiten, goldenen Rahmen, lebensgroß, einer byzantinischen Ikone gleichend, unter dem großen Doppeladler das Bildnis des Allerfrömmsten und Allermächtigsten Herrschers und Kaisers. Das Gesicht des Zaren war länglich, seine Haare blond, er blickte mit hellen, kalten Augen vor sich hin. Die Zahl der Orden an seiner Brust war gewaltig. Seit acht Jahren nahm ich mir vor, sie zu zählen, und verirrte mich stets in dieser Ordenspracht.
Früher hing neben dem Bild des Zaren das der Zarin. Dann nahm man es weg. Die Mohammedaner vom Lande nahmen an ihrem ausgeschnittenen Kleide Anstoß und gaben ihre Kinder nicht in die Schule.
Während der Pope betete, wurde unsere Stimmung feierlich. Immerhin, es war ein höchst aufregender Tag. Vom frühesten Morgen an tat ich das Äußerstmögliche, um ihn würdig zu bestehen. In der Frühe nahm ich mir vor, zu allen im Hause nett zu sein. Da aber die meisten noch schliefen, war diese Aufgabe nicht zu lösen. Auf dem Wege zur Schule gab ich jedem Bettler Geld. Sicher ist sicher. In meiner Aufregung gab ich einem sogar statt fünf Kopeken einen ganzen Rubel. Als er überschwenglich dankte, sagte ich mit Würde:
»Danke nicht mir, danke Allah, der meine Hand zum Geben benutzt hat!«
Unmöglich, nach einem so frommen Spruch durchzufallen.
Das Gebet war zu Ende. Im Gänsemarsch wanderten wir zum Prüfungstisch. Die Prüfungskommission glich dem Rachen eines vorsintflutlichen Ungeheuers: bärtige Gesichter, düstere Blicke, goldene Galauniformen. Das Ganze war sehr feierlich und furchterregend. Obwohl die Russen nur ungern einen Mohammedaner durchfallen lassen. Wir alle haben viele Freunde, und unsere Freunde sind kräftige Burschen mit Dolchen und Revolvern. Die Lehrer wissen es und fürchten sich vor den wilden Banditen, die ihre Schüler sind, nicht minder als ihre Schüler vor ihnen. Eine Versetzung nach Baku betrachten die meisten Professoren als eine Strafe Gottes. Fälle, wo Lehrer in dunklen Gassen überfallen und verprügelt wurden, sind nicht allzu selten. Die Folge davon war immer, daß die Täter unbekannt blieben und die Lehrer versetzt werden mußten. Deshalb drücken sie auch ein Auge zu, wenn der Schüler Ali Khan Schirwanschir ziemlich frech die Mathematikaufgabe beim Nachbar Metalnikow abschreibt. Nur einmal mitten im Abschreiben tritt der Lehrer an mich heran und zischt verzweifelt: