Und legt dann jeden wieder, wo er lag.«
Ich hatte gar nicht bemerkt, daß ich in Gedanken das Gedicht laut vor mich hingesprochen hatte. Das Gesicht des Prinzen erhellte sich.
»Sie waren wohl nur zufällig Soldat?« sagte er gnädig. »Sie sind doch ein Mensch mit Bildung. Wenn Sie die Wahl Ihres Schicksals hätten, würden Sie denn ernstlich den Beruf des Soldaten wählen?«
Ich verbeugte mich. »Was ich wählen würde, Hoheit? Nur vier Dinge: Rubinrote Lippen, Gitarrenklänge, weise Lehren und roten Wein.«
Dakikis berühmter Vers gewann mir die Gunst aller Anwesenden. Selbst der Mullah mit den eingefallenen Wangen lächelte huldvoll.
Es war um Mitternacht, als sich die Tür zum Speisezimmer öffnete. Wir traten ein. Über die Teppiche war ein endloses Tuch ausgebreitet. Diener mit Laternen standen regungslos in den Ecken. Große, weiße Brotfladen lagen auf dem Tuch. In der Mitte erhob sich die riesige Messingschüssel mit Pilaw. Unzählige kleine, große und mittlere Schüsseln bedeckten das Tuch. Wir nahmen Platz und aßen verschiedene Speisen aus verschiedenen Schüsseln. Jeder in der Reihenfolge, die ihm behagte. Wir aßen schnell, wie es die Sitte gebietet, denn das Essen ist das einzige, was der Perser schnell tut. Ein Berg von Reis dampfte in der Mitte des Saales. Der Mullah sprach ein kurzes Gebet.
Neben mir saß mein Vetter Bahram Khan. Er aß wenig und blickte neugierig zu mir herüber.
»Gefällt es dir in Persien?«
»Ja, sehr.«
»Wie lange willst du hier bleiben?«
»Bis die Türken Baku erobert haben.«
»Ich beneide dich, Ali Khan.«
Seine Stimme klang voll Bewunderung. Er rollte einen Brotfladen zusammen und füllte ihn mit heißem Reis.
»Du saßest hinter einem Maschinengewehr und sahst die Tränen in den Augen deiner Feinde. Irans Schwert ist verrostet. Wir schwärmen für Gedichte, die Firdausi vor tausend Jahren geschrieben, und wir können unfehlbar einen Vers Dakikis von einem Vers Rudakis unterscheiden. Aber keiner von uns weiß, wie man eine Autostraße baut oder wie man ein Regiment befehligt.«
»Autostraße«, wiederholte ich und dachte an das mondübergossene Melonenfeld bei Mardakjany. Es war gut, daß niemand in Asien wußte, wie man Autostraßen baut. Sonst könnte ein Pferd aus Karabagh nie und nimmer ein europäisches Auto einholen.
»Wozu brauchst du Autostraßen, Bahram Khan?«
»Um Soldaten auf Lastautos zu transportieren. Obwohl die Minister behaupten, daß wir gar keine Soldaten brauchen. Aber wir brauchen Soldaten! Wir brauchen Maschinengewehre, Schulen, Krankenhäuser, ein geordnetes Steuersystem, neue Gesetze und Leute wie dich. Was wir am wenigsten brauchen, sind alte Verse, bei deren wehmütigem Klang Iran zerfällt. Aber es gibt auch andere Lieder. Kennst du das Gedicht des Dichters Aschraf, der in Giljan wohnt?« Er beugte sich vor und rezitierte leise: ›»Leid und Kummer überfallen das Vaterland. Steh auf, geh hinter dem Sarge Irans. Die Jugend wurde im Leichenzuge Persiens erschlagen. Von ihrem Blute sind Mond, Felder, Hügel und Täler rot gefärbt‹.«
»Greuliche Reime, würde der Prinz sagen, denn sein Kunstsinn wäre tief verletzt.«
»Es gibt ein noch schöneres Gedicht«, sagte Bahram Khan hartnäckig, »der Verfasser heißt Mirza Aga Khan. Hör zu: ›Möge Iran das Schicksal erspart bleiben, vom ungläubigen Feind beherrscht zu werden. Die Braut Iran darf nicht das Lager des russischen Bräutigams teilen. Ihre überirdische Schönheit soll nicht der Freude des englischen Lords dienen‹.«
»Nicht schlecht«, sagte ich — und lächelte, denn das junge Persien unterschied sich vom alten in erster Linie durch schlechte Gedichte. »Aber sag, Bahram Khan, was willst du eigentlich erreichen?«
Er saß steif auf dem blaßroten Teppich und sprach:
»Warst du am Maidani-Sipeh-Platz? Dort sind einhundert alte, verrostete Kanonen aufgestellt, und ihre Mündungen blicken in alle vier Himmelsrichtungen. Weißt du, daß es in ganz Persien keine einzige Kanone gibt außer diesen verstaubten, sinnlosen Erbstücken eines sterbenden Geschlechtes? Und keine einzige Festung, kein einziges Kriegsschiff und so gut wie keinen einzigen Soldaten außer den russischen Kosaken, den englischen Schützen und den vierhundert dicken Bahaduran der Palastwache?
Sieh dir den Onkel an oder den Prinzen oder all die Würdenträger mit prunkvollen Titeln. Trübe Augen und kraftlose Hände, veraltet und verrostet wie die Kanonen am Maidani-Sipeh-Platz. Sie werden nicht mehr lange leben. Und es ist höchste Zeit, daß sie abtreten. Zu lange lag unser Geschick in den müden Händen von Prinzen und Dichtern. Persien ist wie die ausgestreckte Handfläche eines greisen Bettlers. Ich will, daß die ausgedörrte Handfläche zur geballten Faust eines Jünglings wird. Bleibe hier, Ali Khan. Ich habe einiges von dir in Erfahrung gebracht. Wie du bis zuletzt hinter einem Maschinengewehr saßest und die alte Mauer von Baku verteidigt hast, wie du nachts beim Mondschein einem Feind die Kehle durchgebissen hast. Hier gibt es mehr zu verteidigen als eine alte Mauer, und du wirst mehr als ein Maschinengewehr haben. Das ist besser, als im Harem zu sitzen oder die Herrlichkeiten des Basars zu durchwühlen.«
Ich schwieg, in Gedanken versunken. Teheran! Die älteste Stadt der Welt. Roga-Rey nannten sie die Menschen Babylons. Roga-Rey, die königliche Stadt. Staub der alten Legenden, verblichenes Gold zerfallender Paläste. Gewundene Säulen des Diamantentores, blasse Linien der alten Teppiche und stille Rhythmen der weisen Rubayats — da standen sie vor mir, in Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft!
»Bahram Khan«, sagte ich, »wenn du dein Ziel erreicht hast, wenn du Asphaltstraßen und Festungen gebaut und die schlechtesten Dichter in den modernsten Schulen eingeführt hast — wo bleibt dann die Seele Asiens?«
»Die Seele Asiens?« Er lächelte. »Am Ende des Kanonenplatzes werden wir ein großes Gebäude errichten. Dort bringen wir die Seele Asiens unter: Moscheenfahnen, Dichtermanuskripte, Miniaturzeichnungen und Lustknaben, denn auch die gehören zur Seele Asiens. An die Fassade schreiben wir in schönster Kufi-Schrift das Wort ›Museum‹. Onkel Assad es Saltaneh kann Museumswärter werden und Seine Kaiserliche Hoheit Museumsdirektor. Willst du uns helfen, das schöne Gebäude zu errichten?«
»Ich will es mir überlegen, Bahram Khan.«
Das Essen war beendet. Die Gäste saßen in losen Gruppen im Saal. Ich erhob mich und ging hinaus auf die offene Veranda. Die Luft war frisch. Aus dem Garten drang der Duft der iranischen Rosen. Ich setzte mich nieder, ein Rosenkranz glitt durch meine Finger, und ich blickte in die Nacht. Drüben hinter der Lehmkuppel des Basars war Schimran. Dort lag, in Kissen und Teppichen eingewickelt, meine Nino. Wahrscheinlich schlief sie, mit leicht geöffneten Lippen, die Augenlider von Tränen geschwollen. Tiefe Trauer erfüllte mich. Alle Herrlichkeiten des Basars reichten nicht aus, um ihre Augen wieder lächeln zu machen.
Persien! Sollte ich hierbleiben? Zwischen Eunuchen und Prinzen, Derwischen und Narren? Asphaltstraßen bauen, Armeen aufstellen, Europa ein Stück weiter ins Innere Asiens hineintragen helfen?
Und plötzlich fühlte ich, daß nichts, nichts auf der Welt mir so teuer war wie das Lächeln in Ninos Augen. Wann lachten diese Augen zuletzt? Irgendwann in Baku an der morschen Mauer. Wildes Heimweh ergriff mich. Ich sah die staubbedeckte Mauer vor mir und die Sonne, die hinter der Insel Nargin unterging. Ich hörte die Schakale, die draußen an der Pforte des grauen Wolfes dem Monde entgegenheulten. Der Sand der Wüste bedeckte die Steppe bei Baku. Fettes, öldurchtränktes Land zog sich an den Küsten entlang, am Mädchenturm feilschten die Händler, und durch die Nikolaistraße kam man zum Lyzeum der heiligen Königin Tamar. Unter den Bäumen des Lyzeumshofes stand Nino, das Schulheft in der Hand, mit großen erstaunten Augen. Der Duft der persischen Rosen war plötzlich geschwunden. Ich rief nach der Heimat wie ein Kind nach der Mutter und ahnte dumpf, daß es diese Heimat nicht mehr gab. Ich witterte die klare Wüstenluft Bakus und den leichten Duft von Meer, Sand und Öl. Nie hätte ich diese Stadt verlassen dürfen, in der mich Gott zur Welt kommen ließ. Ich war angekettet an die alte Mauer, wie ein Hund an seine Hütte. Ich blickte zum Himmel. Die persischen Sterne waren groß und fern wie die Edelsteine in der Krone des Schahs. Nie war mir das Gefühl meines Andersseins so deutlich bewußt geworden wie jetzt. Ich gehörte nach Baku. Zu der alten Mauer, in deren Schatten Ninos Augen lächelnd aufblitzten.