»Du wirst mich zugrunde richten, Ali«, sagte Nino seufzend, während sie mir acht Silbertomane zuschob, die ich eben gewonnen hatte.
Sie rückte das Brett weg, legte ihren Kopf auf meine Knie, blickte nachdenklich zur Decke und träumte. Es war ein schöner Tag; denn Nino war von dem Gefühl befriedigter Rache erfüllt. Und das war so gekommen:
Schon am frühen Morgen hallte das Haus wider von Ächzen und Stöhnen. Ihr Feind, Jahja Kuli, kam mit geschwollener Wange und verzerrtem Gesicht.
»Zahnschmerzen«, sagte er mit einem Gesicht, als wollte er Selbstmord begehen. In Ninos Augen blitzten Triumph und Lust. Sie führte ihn zum Fenster, blickte in seinen Mund und runzelte die Stirn. Dann schüttelte sie besorgt den Kopf. Sie nahm einen starken Bindfaden und umwickelte damit den hohlen Zahn Jahja Kulis. Das andere Ende des Fadens befestigte sie an der Klinke einer offenen Tür.
»So«, sagte sie, rannte gegen die Tür und schlug sie mit aller Wucht zu. Ein markerschütternder Schrei — der Eunuch stürzte entsetzt zu Boden und starrte dem Zahn nach, der in elegantem Bogen der Türklinke nachflog.
»Sag ihm, Ali Khan, das kommt davon, daß man die Zähne mit dem Zeigefinger der rechten Hand putzt.«
Ich übersetzte wortgetreu, und Jahja Kuli hob den Zahn vom Boden. Ninos Rachsucht war aber bei weitem noch nicht gestillt.
»Sag ihm, Ali Khan, daß er noch lange nicht gesund ist. Er muß sich zu Bett legen und sechs Stunden lang heiße Packungen auf die Wange legen. Und mindestens eine Woche lang darf er nichts Süßes essen.«
Jahja Kuli nickte und ging — befreit und erschüttert zugleich.
»Schäm dich, Nino«, sagte ich, »einem armen Menschen die letzte Freude zu nehmen.«
»Geschieht ihm recht«, sagte Nino hartherzig und holte das Nardybrett. Da sie das Spiel verlor, war die Gerechtigkeit einigermaßen wiederhergestellt.
Jetzt blickte sie zur Decke, und ihre Finger streichelten mein Kinn.
»Wann wird Baku erobert, Ali?«
»Wahrscheinlich in zwei Wochen.«
»Vierzehn Tage«, seufzte sie, »ich sehne mich nach Baku und nach dem Einzug der Türken, weißt du, es ist alles so anders geworden. Während du dich hier ganz wohl fühlst, werde ich täglich entehrt.«
»Wieso entehrt?«
»Alle Welt behandelt mich wie einen sehr teuren und zerbrechlichen Gegenstand. Ich weiß nicht, wie teuer ich bin, aber ich bin weder zerbrechlich noch ein Gegenstand. Denke an Daghestan! Da war es ganz anders. Nein, es gefällt mir hier nicht. Wenn Baku nicht bald befreit wird, müssen wir woandershin ziehen. Ich weiß nichts von den Dichtern, auf die dieses Land so stolz ist, aber ich weiß, daß zum Feste Husseins Menschen ihre Brust zerkratzen, mit Dolchen auf ihren Schädel einschlagen und mit Eisenketten ihren Rücken geißeln. Heute verließen viele Europäer die Stadt, um bei diesem Schauspiel nicht anwesend zu sein. Das Ganze widert mich an. Ich fühle mich hier einer Willkür ausgesetzt, die mich jederzeit plötzlich überfallen kann.«
Ihr zartes Gesicht blickte zu mir empor. Ihre Augen waren tief und dunkel wie nie zuvor. Die Pupillen waren geweitet, und der Blick war weich und nach innen gerichtet. Ninos Augen allein verrieten ihre Schwangerschaft.
»Fürchtest du dich, Nino?«
»Wovor?« Ihre Stimme klang aufrichtig erstaunt.
»Es gibt Frauen, die sich davor fürchten.«
»Nein«, sagte Nino ernst, »ich fürchte mich nicht. Ich fürchte mich vor Mäusen, Krokodilen, Prüfungen und Eunuchen. Aber nicht davor. Sonst müßte ich mich auch vor dem Schnupfen im Winter fürchten.«
Ich küßte ihre kühlen Augenlider. Sie erhob sich und strich ihr Haar zurück.
»Ich fahre jetzt zu meinen Eltern, Ali Khan.«
Ich nickte, obwohl ich genau wußte, daß in der kleinen Villa der Kipianis alle Gesetze des Harems umgestoßen wurden. Der Fürst empfing georgische Freunde und europäische Diplomaten. Nino trank Tee, aß englisches Gebäck und unterhielt sich mit dem holländischen Konsul über Rubens und das Problem der orientalischen Frau.
Sie ging, und ich sah die Kutsche mit den geschliffenen Glasscheiben aus dem Hof fahren. Ich war allein und dachte an die grünen Fähnchen und die wenigen Zoll bunten Papiers, die mich von der Heimat trennten. Das Zimmer war halbdunkel. Der leise Duft von Ninos Parfüm hing noch in den weichen Kissen des Diwans. Ich glitt zu Boden, und meine Hand ergriff den Rosenkranz. An der Wand des Zimmers prangte der silberne Löwe mit dem Schwert in der linken Tatze. Ich blickte zu ihm empor. Das silberne Schwert leuchtete in der schweren Pranke. Ein Gefühl kraftloser Ohnmacht überfiel mich. Es war beschämend, im schützenden Schatten des silbernen Löwen zu sitzen, während in den Steppen bei Gandscha das Volk verblutete. Auch ich war ein Gegenstand. Ein teurer, gehüteter und gepflegter. Ein Schirwanschir, dazu bestimmt, irgendwann einen prunkvollen Hoftitel zu empfangen und in gepflegter, klassischer Sprache gepflegte Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Indessen verblutete in der Ebene bei Gandscha das Volk. Tiefe Hoffnungslosigkeit ergriff mich. Der silberne Löwe grinste an der Wand. Die Grenzbrücke über den Araxes war gesperrt, und es gab keinen Weg vom Lande Iran zu Ninos Seele.
Ich zupfte am Rosenkranz. Der Faden zerriß, und die gelben Kugeln rollten über den Boden.
In der Ferne ertönten die dumpfen Schläge eines Tamburins. Sie klangen drohend und rufend, wie die Mahnung des Unsichtbaren. Ich trat ans Fenster. Die Straße war staubig und glühend. Die Sonne stand fast senkrecht über Schimran. Die Trommelschläge kamen näher, ihr Rhythmus war begleitet von kurzen, tausendfach wiederholten Rufen:
»Scha-sse… Wah-sse: Schah Hussein… Weh Hussein.«
An der Ecke zeigte sich die Prozession. Drei ungeheure Fahnen, mit schwerem Gold bestickt, wurden von kräftigen Händen über der Menge getragen. Mit großen goldenen Buchstaben war auf der einen der Name Alis geschrieben, des Freundes Allahs auf Erden. Auf der schwarzen Samtfläche der zweiten Fahne zeichneten sich, segnend und verstoßend zugleich, die breiten Linien einer linken Handfläche ab, der Hand der Fatima, der Tochter des Propheten. Und mit Lettern, die den Himmel zu überdecken schienen, stand auf der dritten Fahne nur ein einziges Wort geschrieben: Hussein, Enkel des Propheten, Märtyrer und Erlöser.
Langsam schritt die Menge durch die Straße. Voran, in schwarzen Trauergewändern, mit entblößtem Rücken und schweren Ketten in der Hand, die frommen Büßer. Im Takt der Trommel hoben sie die Hände, und die Ketten streiften die geröteten, blutenden Schultern. Hinter ihnen gingen in weitem Halbkreis — immer zwei Schritte vor, einen Schritt zurück — breitschultrige Männer. Heiser erscholl über die Straße ihr dumpfer Ruf: »Schah-sse… Wah-sse«, und bei jedem Schrei schlugen geballte Fäuste hart und dumpf gegen die offene behaarte Brust. Nachkommen des Propheten folgten, gesenkten Hauptes, im grünen Gurt ihres Standes. Hinter ihnen, im weißen Gewande des Todes, die Märtyrer des Moharrems. Mit geschorenen Häuptern, mit langen Dolchen in der Hand. Die Gesichter finster, verschlossen, in eine andere Welt getaucht. »Schah-sse… Wah-sse.« Die Dolche blitzten auf und sausten nieder auf die geschorenen Schädel. Blut bedeckte die Gewänder der Märtyrer. Einer taumelte und wurde von herbeigeeilten Freunden aus der Menge getragen. Ein glückseliges Lächeln umspielte seinen Mund.
Ich stand am Fenster. Ein nie gekanntes Gefühl ergriff mich. Der Ruf drang mahnend in meine Seele, das Verlangen nach Hingabe erfüllte mich. Ich sah die Blutstropfen im Staube der Straße, und das Tamburin klang lockend und befreiend. Da war es, das Geheimnis des Unsichtbaren, die Pforte des Leides, die zur Gnade der Erlösung führte. Ich preßte die Lippen zusammen. Noch fester umklammerte meine Hand das Fensterbrett. Die Fahne Husseins zog an mir vorbei. Ich sah die Hand der Fatima, und alles Sichtbare um mich her versank. Noch einmal hörte ich den dumpfen Klang der Trommel, der Gleichklang der wilden Rufe war in mir, und ich war plötzlich selbst ein Teil dieser Menge. Ich schritt im Kreise der Breitschultrigen, und meine geballten Fäuste hämmerten gegen meine entblößte Brust. Später ahnte ich das kühle Dunkel einer Moschee um mich und hörte den klagenden Ruf des Imams. Jemand gab mir die schwere Kette in die Hand, und ich fühlte den glühenden Schmerz in meinem Rücken. Stunden vergingen. Ein breiter Platz lag vor mir, und aus meiner Kehle drang wild und jauchzend der alte Ruf: »Schah-sse… Wah-sse.« Ein Derwisch mit zermürbtem Gesicht stand vor mir. Seine Rippen zeichneten sich unter der welken Haut ab. Die Augen der Betenden waren starr. Sie sangen, und über den Platz schritt ein Pferd mit blutiger Schabracke. Das Pferd des Jünglings Hussein. Der Derwisch mit dem zermürbten Gesicht schrie auf, hoch und gedehnt. Seine Kupferschale flog zur Seite, und er stürzte sich unter die Hufe des Pferdes. Ich taumelte. Die geballten Fäuste trommelten an die nackte Brust. »Schah-sse… Wah-sse.« Die Menge jauchzte. Ein Mann mit blutbeflecktem, weißem Gewand wurde an mir vorbeigetragen. Von weither kamen unzählige flammende Fackeln und rissen mich mit. Ich saß im Hofe einer Moschee, und die Menschen um mich trugen hohe, runde Mützen und hatten Tränen in den Augen. Jemand sang das Lied vom Jüngling Hussein und erstickte im jähen Schmerz. Ich erhob mich. Die Menge strömte zurück. Die Nacht war kühl. Wir kamen an den Regierungsgebäuden vorbei und sahen schwarze Fahnen an den Masten. Die endlose Reihe der Fackeln glich einem Fluß, in dem sich die Sterne widerspiegelten. Vermummte Gestalten blickten um die Ecken. An den Pforten der Konsulate standen Patrouillen mit aufgepflanzten Bajonetten. Die Dächer der Häuser waren mit Menschen bedeckt. Eine Kamelkarawane zog über den Kanonenplatz an den Reihen der Betenden vorbei, klagende Rufe ertönten, Weiber fielen zu Boden, und ihre Glieder zuckten im fahlen Mondschein. In den Sänften der Kamele saß die Familie des heiligen Jünglings. Hinterher, auf einem schwarzen Roß, das Gesicht von einem Sarazenenvisier verdeckt, ritt der grimmige Kalif Jesid, der Mörder des Heiligen. Steine flogen über den Platz und streiften das Visier des Kalifen. Er ritt schneller und verbarg sich im Hofe der Ausstellungshalle des Nassreddin Schah. Morgen sollte dort das Passionsspiel des Jünglings beginnen. Auch am Diamantentor des kaiserlichen Palastes hingen schwarze Fahnen auf Halbmast. Die Bahadurans auf Wache trugen Trauerflor und standen gesenkten Hauptes. Der Kaiser war abwesend. Er hielt sich in seinem Sommerpalais Bagheschah auf. Die Menge ergoß sich über die Ala ed Dawleh-Straße, und ich war plötzlich allein auf dem menschenleeren, in Dunkelheit getauchten Kanonenplatz. Die Mündungen der verrosteten Geschütze blickten mich gleichgültig an. Mein Körper schmerzte, wie von tausend Rutenhieben zerrissen. Ich berührte meine Schulter und fühlte eine dicke Blutkruste. Mir schwindelte. Ich überquerte den Platz und näherte mich einer leeren Droschke. Der Kutscher sah mich an, voll Verständnis und Mitleid.