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»Nicht so auffällig, Schirwanschir, wir sind nicht allein.«

Die schriftliche Mathematik klappte reibungslos. Vergnügt schlenderten wir die Nikolaistraße hinunter, fast schon nicht mehr wie Schüler. Für morgen war das schriftliche Russisch angesagt. Das Thema kam, wie immer, im versiegelten Paket aus Tiflis. Der Direktor erbrach den Umschlag und las feierlich:

»Die weiblichen Gestalten Turgenjews als ideale Verkörperungen der russischen Frauenseele.«

Ein bequemes Thema. Ich konnte schreiben, was ich wollte, ich mußte nur die russischen Frauen loben, dann war das Spiel gewonnen. Schriftliche Physik war schwerer. Doch, wo die Weisheit versagte, half eben die bewährte Kunst des Abschreibens. So klappte auch die Physik, worauf die Kommission den Delinquenten einen Tag Ruhe gewährte.

Dann kam das Mündliche. Da half keine List. Man mußte auf einfache Fragen schwierige Antworten geben. Die erste Prüfung galt der Religion. Der Gymnasial-Mullah, im langen, wallenden Überwurf, mit der grünen Schärpe eines Nachkommen des Propheten umgürtet, sonst immer bescheiden im Hintergrund, saß plötzlich vorne am Tisch. Er hatte für seine Schüler ein mildes Herz. Mich fragte er nur nach der Glaubensformel und entließ mich mit der höchsten Note, nachdem ich brav das schiitische Glaubensbekenntnis hergesagt hatte.

»Es gibt keinen Gott außer Allah, Mohammed ist sein Prophet und Ali der Statthalter Allahs.«

Das letztere war besonders wichtig; denn das allein unterschied den frommen Schiiten von den verirrten Brüdern der sunnitischen Richtung, denen aber immerhin die Gnade Allahs wohl nicht ganz versagt war. So lehrte uns der Mullah; denn er war ein liberaler Mann.

Der Geschichtslehrer war dafür um so weniger liberal. Ich zog den Zettel mit der Frage, las sie, und mir war gar nicht wohl zumute: »Der Sieg Madatows bei Gandscha« stand darauf. Auch dem Lehrer war nicht sehr behaglich. In der Schlacht von Gandscha erschlugen die Russen hinterlistig jenen berühmten Ibrahim Khan Schirwanschir, mit dessen Hilfe Hassan Kuli einst dem Fürsten Zizianaschwili den Kopf abgeschnitten hatte.

»Schirwanschir, Sie können von Ihrem Recht Gebrauch machen und Ihre Frage umtauschen.«

Die Worte des Lehrers klangen sanft. Ich blickte mißtrauisch auf die gläserne Schale, in der wie Lotterielose die Zettel mit den Prüfungsfragen lagen. Jeder Schüler hatte das Recht, den gezogenen Zettel einmal umzutauschen. Er verlor dadurch nur den Anspruch auf die höchste Note. Ich wollte aber das Schicksal nicht herausfordern. Über den Tod meines Ahnen wußte ich wenigstens Bescheid. In der Glasschale lagen aber noch völlig rätselhafte Fragen über die Reihenfolge der Friedrichs, der Wilhelms und der Friedrich Wilhelms in Preußen oder über die Ursachen der amerikanischen Befreiungskriege. Wer sollte sich da noch auskennen? Ich schüttelte den Kopf.

»Danke, ich behalte meine Frage.«

Dann erzählte ich, so artig ich konnte, von dem Prinzen Abbas Mirza von Persien, der mit einer Armee von 40000 Mann von Täbris auszog, um die Russen aus Aserbaidschan zu verjagen. Wie der Armenier General Madatow mit 5000 Mann ihn bei Gandscha traf und mit Kanonen auf die Perser schießen ließ, worauf Prinz Abbas Mizra vom Pferde fiel und sich in einen Graben verkroch, die gesamte Armee auseinanderlief und Ibrahim Khan Schirwanschir mit einer Schar von Recken beim Versuch, über den Fluß zu entkommen, gefangen und erschossen wurde.

»Der Sieg beruhte weniger auf der Tapferkeit der Truppen als auf der technischen Überlegenheit der Kanonen Madatows. Die Folgen des russischen Sieges war der Friede von Turkmentschai, bei dem die Perser einen Tribut zahlen mußten, dessen Eintreibung fünf Provinzen verwüstete.«

Dieser Schluß kostete mich das »Gut«. Ich hätte sagen müssen:

»Die Ursache des Sieges war der beispiellose Mut der Russen, die den achtfach überlegenen Feind in die Flucht zwangen. Die Folge des Sieges war der Friede von Turkmentschai, der den Persern den Anschluß an die westliche Kultur und die westlichen Märkte ermöglichte.«

Wie dem auch sei, die Ehre meines Ahnen war mir so viel wert wie der Unterschied zwischen Gut und Genügend.

Nun war es zu Ende. Der Direktor hielt eine feierliche Ansprache. Voll Würde und sittlichen Ernstes erklärte er uns für reif, und dann sprangen wir wie freigelassene Sträflinge die Treppe hinab. Die Sonne blendete uns. Der gelbe Sand der Wüste bedeckte den Straßenasphalt mit feinsten Körnchen, der Polizist von der Ecke, der uns acht Jahre gnädig beschützt hatte, kam, gratulierte und bekam von jedem fünfzig Kopeken. Wie eine Horde von Banditen ergossen wir uns lärmend und schreiend über die Stadt.

Ich eilte nach Hause und wurde empfangen wie Alexander nach dem Siege über die Perser. Die Diener blickten mich schreckerfüllt an. Mein Vater küßte mich ab und schenkte mir die Gewährung dreier Wünsche, die ich nach Belieben wählen konnte. Mein Onkel meinte, ein so weiser Mann gehöre unbedingt an den Hof von Teheran, wo er es sicherlich weit bringen würde.

Verstohlen schlich ich mich, nachdem sich die erste Aufregung gelegt hatte, ans Telephon. Zwei Wochen lang hatte ich mit Nino nicht gesprochen. Eine weise Regel gebietet dem Manne, den Umgang mit Frauen zu meiden, wenn er vor wichtigen Lebensfragen steht. Jetzt hob ich den Griff des unförmigen Apparates, drehte die Klingel und rief hinein:

»33–81.«

Ninos Stimme meldete sich:

»Bestanden, Ali?«

»Ja, Nino.«

»Gratuliere, Ali!«

»Wann und wo, Nino?«

»Um fünf am Teich im Gouverneursgarten, Ali.«

Mehr zu sprechen war nicht gestattet. Hinter meinem Rücken lauerten die neugierigen Ohren der Verwandten, Diener und Eunuchen. Hinter Ninos Rücken die vornehme Frau Mama. Also Schluß. Stimme ohne Körper ist sowieso etwas so Ungewöhnliches, daß man an ihr keine richtige Freude hat.

Ich ging hinauf in das große Zimmer meines Vaters. Er saß auf dem Diwan und trank Tee. Neben ihm der Onkel. Diener standen an den Wänden und starrten mich an. Die Matura war noch lange nicht zu Ende. An der Schwelle des Lebens mußte der Vater dem Sohn in aller Form und öffentlich die Weisheit des Lebens übermitteln. Es war rührend und etwas altmodisch.

»Mein Sohn, jetzt, da du ins Leben trittst, ist es notwendig, daß ich dich noch einmal an die Pflichten eines Muslim mahne. Wir leben hier im Lande des Unglaubens. Um nicht unterzugehen, müssen wir an alten Sitten und an alten Bräuchen festhalten. Bete oft, mein Sohn, trink nicht, küsse keine fremden Frauen, sei gut zu den Armen und Schwachen und immer bereit, das Schwert zu ziehen und für den Glauben zu fallen. Wenn du im Felde stirbst, so wird es mir, dem alten Mann, wehe tun, wenn du aber in Unehren am Leben bleibst, werde ich alter Mann mich schämen. Vergib nie den Feinden, mein Sohn, wir sind keine Christen. Denke nicht an morgen, das macht feige, und vergiß nie den Glauben Mohammeds, in schiitischer Auslegung der Richtung des Imam Dschafar.«

Onkel und Diener hatten feierlich verträumte Gesichter. Sie hörten den Worten des Vaters zu, als wären sie eine Offenbarung. Dann erhob sich mein Vater, nahm mich an der Hand und sagte mit plötzlich bebender und unterdrückter Stimme:

»Und um eines flehe ich dich an: Befasse dich nicht mit Politik! Alles, was du willst, nur keine Politik.«

Ich schwor leichten Herzens. Das Gebiet der Politik lag mir fern. Nino war meines Wissens kein politisches Problem. Mein Vater umarmte mich nochmals. Jetzt war ich endgültig reif.

Um halb fünf schlenderte ich, immer noch in großer Gymnasiastengala, die Festungsgasse zur Strandpromenade hinab. Dann nach rechts, am Gouverneurspalais vorbei, zum Garten, der mit so ungeheurer Mühe in der wüsten Erde Bakus angelegt worden war.