Nach der Parade saßen Iljas, Seyd und ich an der Strandpromenade, herbstliches Laub fiel von den Bäumen, und meine Freunde stritten erbittert über die Grundsätze des neuen Staates. Aus den Feldzügen und den Kämpfen bei Gandscha, aus den Gesprächen mit jungtürkischen Offizieren, aus den Erfahrungen des Krieges gewann Iljas Beg die feste Überzeugung, daß nur rascheste europäische Reformen unser Land vor einer neuen russischen Invasion schützen könnten.
»Man kann Festungen bauen, Reformen einführen und Straßen ziehen und dennoch ein guter Mohammedaner bleiben«, rief er pathetisch.
Der Seyd runzelte die Stirn und hatte müde Augen.
»Geh einen Schritt weiter, Iljas Beg«, meinte er kühl, »sag, man kann Wein trinken, Schweinefleisch essen und dennoch ein guter Mohammedaner bleiben. Denn die Europäer haben schon längst entdeckt, daß Wein gesund und Schweinefleisch nahrhaft ist. Natürlich kann man dennoch ein guter Mohammedaner sein, nur wird der Erzengel an der Schwelle des Paradieses es nicht glauben wollen.«
Iljas lachte.
»Zwischen Exerzieren und Schweinefleischessen ist noch ein gewaltiger Unterschied.«
»Aber nicht zwischen Schweinefleischessen und Weintrinken. Die türkischen Offiziere trinken öffentlich Sekt und tragen Kreuze an der Brust.«
»Seyd«, fragte ich, »kann man ein guter Mohammedaner sein und auf Betten schlafen und mit Messer und Gabel essen?«
Der Seyd lächelte fast zärtlich.
»Du wirst immer ein guter Mohammedaner bleiben. Ich habe dich am Tage des Moharrem gesehen.«
Ich schwieg. Iljas Beg schob seine Militärmütze zurecht.
»Ist es wahr, daß du ein europäisches Haus bekommst, mit modernen Möbeln und hellen Tapeten?«
»Ja, das ist wahr, Iljas Beg.«
»Das ist gut«, sagte er entschieden, »wir sind jetzt eine Hauptstadt. Fremde Gesandte werden ins Land kommen. Wir brauchen Häuser, in denen wir sie empfangen können, und wir brauchen Damen, die sich mit den Damen der Diplomaten unterhalten können. Du hast die richtige Frau, Ali Khan, und du bekommst das richtige Haus. Du solltest im Außenministerium arbeiten.«
Ich lachte.
»Iljas Beg, du beurteilst meine Frau, mein Haus und mich, als wären wir Pferde, die zum Rennen der internationalen Verständigung starten sollen. Du glaubst, daß ich mein Haus nur im Hinblick auf unsere internationalen Interessen umbauen lasse.«
»So müßte es sein«, sagte Iljas hart, und plötzlich fühlte ich, daß er recht hatte, daß alles in uns diesem neuen Staate dienen müsse, der aus der kargen, sonnendurchglühten Erde Aserbaidschans emporwachsen sollte.
Ich ging heim, und als Nino erfuhr, daß ich nichts gegen Parkettböden und Ölbilder an der Wand hätte, da lachte sie vergnügt, und ihre Augen blitzten auf, wie einst im Walde, bei der Quelle von Pechachpur.
In dieser Zeit ritt ich oft in die Wüste hinaus. Ich sah die Sonne blutüberströmt im Westen untergehen und vergrub mich für Stunden in den weichen Sand. Die türkischen Truppen zogen an mir vorbei. Die Offiziere aber hatten plötzlich verstörte und gespannte Gesichter. Der Lärm unseres Staates hatte für uns das ferne Donnern der Kanonen des Weltkrieges übertönt. Irgendwo, weit, weit weg, wichen bulgarische Regimenter vor dem Ansturm des Feindes.
»Durchbruch. Die Front kann nicht mehr hergestellt werden«, sagten die Türken und tranken keinen Sekt mehr.
Spärliche Nachrichten kamen und wirkten wie Blitzschläge. Im fernen Hafen von Mudros bestieg ein gebückter Mann den britischen Panzerkreuzer »Agamemnon«. Der gebückte Mann war Hussein Reuf Bey, Marineminister des Hohen Ottomanischen Reiches, Bevollmächtigter des Kalifen zum Abschluß des Waffenstillstandes. Er beugte sich über einen Tisch, setzte seinen Namen unter ein Stück Papier, und die Augen des Paschas, der in unserer Stadt herrschte, füllten sich mit Tränen.
Noch einmal ertönte in den Straßen Bakus das Lied vom Reiche Turan, doch diesmal klang es wie ein Trauergesang. In Glacehandschuhen, stramm im Sattel sitzend, ritt der Pascha die Front ab. Die türkischen Gesichter waren starr. Die Fahne des heiligen Hauses Osman wurde eingerollt, die Trommeln wirbelten, und der Pascha führte die Hand im Glacehandschuh an die Stirn. Die Kolonnen zogen aus der Stadt und hinterließen das traumhafte Bild der Moscheen von Stambul, der luftigen Paläste am Bosporus und des hagern Mannes, der Kalif war und den Mantel des Propheten auf seinen Schultern trug.
Ich stand an der Strandpromenade, als sich wenige Tage später hinter der Insel Nargin die ersten Schiffe mit englischen Besatzungstruppen zeigten. Der General hatte blaue Augen, einen kurzen Schnurrbart und breite, starke Hände. Neuseeländer, Kanadier und Australier fluteten in die Stadt. Der Union Jack flatterte neben der Fahne unseres Landes, und Feth Ali Khan rief mich an und bat mich, ich möge in sein Ministerium kommen.
Ich besuchte ihn, und er saß im tiefen Lehnsessel, den feurigen Blick auf mich gerichtet.
»Ali Khan, warum sind Sie noch nicht im Staatsdienst?«
Ich wußte es selbst nicht. Ich sah die dicken Mappen auf seinem Schreibtisch und empfand Gewissensbisse.
»Ich gehöre ganz der Heimat, Feth Ali Khan, verfügen Sie über mich.«
»Wie ich höre, haben Sie eine affenartige Begabung für fremde Sprachen. Wie schnell können Sie Englisch lernen?«
Ich lächelte verwirrt.
»Feth Ali, ich brauche kein Englisch zu lernen. Ich kann es schon lange.«
Er schwieg, den großen Kopf an den Sesselrücken gelehnt.
»Wie geht es Nino?« fragte er plötzlich, und ich wunderte mich, daß unser Premierminister, alle Gesetze der Sittsamkeit außer acht lassend, sich nach meiner Frau erkundigte.
»Danke, Exzellenz, meiner Frau geht es gut.«
»Kann sie auch Englisch?«
»Ja.«
Er schwieg und zupfte an seinem breiten Schnurrbart.
»Feth Ali Khan«, sagte ich ruhig, »ich weiß, was Sie wollen. Mein Haus ist in einer Woche fertig. In Ninos Schrank hängen Dutzende von Abendkleidern. Wir sprechen Englisch, und die Sektrechnung bezahle ich selbst.«
Unter seinem Schnurrbart zuckte ein flüchtiges Lächeln.
»Ich bitte um Verzeihung, Ali Khan«, seine Augen wurden weich, »ich wollte Sie nicht beleidigen. Wir brauchen Menschen wie Sie. Unser Land ist arm an Leuten, die europäische Frauen haben, einen alten Namen führen, Englisch sprechen und ein Haus besitzen. Ich zum Beispiel habe nie Geld gehabt, um Englisch zu lernen, geschweige denn, ein Haus zu besitzen oder eine europäische Frau.«
Er schien müde und ergriff die Feder.
»Von heute ab sind Sie Attache im Dezernat für Westeuropa. Melden Sie sich beim Außenminister Assadullah. Er wird Ihnen Ihre Arbeit erklären. Und… und… aber werden Sie nicht gleich böse… kann Ihr Haus schon in fünf Tagen fertig sein? Ich schäme mich selbst, eine solche Bitte an Sie richten zu müssen.«
»Jawohl, Exzellenz«, sagte ich fest und spürte dabei ein Gefühl in mir aufsteigen, als hätte ich soeben einen alten, treuen und geliebten Freund böswillig verleugnet und verlassen.