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An einem späten Sommerabend saßen wir im Zimmer und hörten von weitem dumpfes Pferdegetrappel. Ich trat auf die Veranda, und eine schlanke Gestalt im schwarzen Tscherkessenrock sprang vom Pferd.

»Iljas Beg«, rief ich und streckte ihm die Hände entgegen. Er erwiderte nicht den Gruß. Er stand im Scheine der Petroleumlampe, und sein Gesicht war grau und eingefallen.

»Die Russen sind in Baku«, sagte er hastig.

Ich nickte, als wäre es mir längst bekannt. Nino stand hinter mir, und ein leiser Schrei entfuhr ihren Lippen:

»Wie ist das geschehen, Iljas Beg?«

»In der Nacht kamen die Züge von Jalama, besetzt mit russischen Soldaten. Sie schlossen die Stadt ein, und das Parlament kapitulierte. Alle Minister, die nicht fliehen konnten, wurden verhaftet, das Parlament aufgelöst. Die russischen Arbeiter stellten sich auf die Seite ihrer Landsleute. Es gab keine Soldaten in Baku, und die Armee stand auf verlorenem Posten an der Grenze Armeniens. Ich will Freischaren sammeln.«

Ich wandte mich um. Nino verschwand im Hause, während die Diener die Pferde vor den Wagen spannten. Sie packte die Sachen und sprach mit dem Spielzeug leise und in der Sprache ihrer Ahnen. Dann fuhren wir durch die Felder, Iljas ritt neben uns. In der Ferne leuchteten die Lichter von Gandscha, und für einen Augenblick fühlte ich, wie Gegenwart und Vergangenheit in mir ineinander übergingen. Ich sah Iljas Beg, mit dem Dolch im Gurt, blaß und ernst, und Nino, gefaßt und stolz, wie einst beim Melonenfeld von Mardakjany.

Nachts kamen wir in Gandscha an. Die Straßen waren voller Menschen, die Gesichter voller Aufregung und Spannung. Auf der Brücke, die Armenier und Mohammedaner voneinander trennte, standen Soldaten mit schußbereiten Gewehren, und die Fackeln beleuchteten die Fahne Aserbaidschans am Balkon des Regierungsgebäudes.

30. Kapitel

Ich sitze an der Mauer der großen Moschee von Gandscha. Ein Suppenteller steht vor mir, und Soldaten mit müden Gliedern liegen im Hof. Vom Flusse her kläffen die Maschinengewehre. Ihr böses Bellen dringt in den Moscheehof, und die Republik Aserbaidschan hat nur noch wenige Tage zu leben.

Ich sitze abseits im großen Hof. Mein Heft liegt vor mir, und ich fülle es mit hastigen Zeilen, die die Vergangenheit noch einmal festhalten sollen.

Wie war das, damals, vor acht Tagen, in dem kleinen Hotelzimmer in Gandscha?

»Du bist wahnsinnig«, sagte Iljas Beg.

Es war drei Uhr nachts, und Nino schlief im Nebenzimmer.

»Du bist wahnsinnig«, wiederholte er und ging im Zimmer auf und ab.

Ich saß am Tisch, und die Meinung Iljas Begs war für mich das Unwichtigste auf Erden.

»Ich bleibe hier. Die Freischärler kommen. Wir werden kämpfen. Ich fliehe nicht aus meinem Lande.«

Ich sprach leise und wie im Traume. Iljas Beg blieb stehen und sah mich traurig und trotzig an.

»Ali Khan, wir sind zusammen zur Schule gegangen und balgten uns mit den Russen in der großen Pause. Ich ritt hinter dir, als du den Wagen Nachararjans verfolgtest. Ich brachte Nino in meinem Sattel nach Hause, und wir kämpften zusammen an der Pforte Zizianaschwilis. Jetzt mußt du fort. Ninos wegen, deinetwegen, des Landes wegen, das dich vielleicht noch einmal brauchen wird.«

»Du bleibst hier, Iljas Beg, und ich bleibe auch.«

»Ich bleibe hier, weil ich allein auf der Welt bin, weil ich Soldaten zu führen weiß und dem Lande die Erfahrungen zweier Feldzüge zu bieten habe. Du geh nach Persien, Ali Khan.«

»Ich kann nicht nach Persien gehen. Ich kann auch nicht nach Europa.«

Ich trat ans Fenster. Unten brannten die Fackeln und klirrte das Eisen.

»Ali Khan, unsere Republik hat keine acht Tage mehr zu leben.«

Ich nickte gleichgültig. Menschen zogen am Fenster vorbei, und ich sah Waffen in ihren Händen.

Ich hörte Schritte im Nebenzimmer und wandte mich um. Nino stand in der Tür mit verschlafenen Augen.

»Nino«, sagte ich, »der letzte Zug nach Tiflis geht in zwei Stunden.«

»Ja, wir wollen fahren, Ali Khan.«

»Nein, du fährst mit dem Kind. Ich komme später nach. Ich muß noch hierbleiben. Aber du mußt fort. Es ist nicht so wie damals in Baku. Es ist alles anders, und du kannst nicht hierbleiben, Nino. Du hast jetzt dein Kind.«

Ich sprach, draußen brannten die Fackeln, und Iljas Beg stand in der Ecke des Zimmers mit gesenktem Haupt.

Der Schlaf wich aus Ninos Augen. Sie ging langsam zum Fenster und blickte hinaus. Sie sah zu Iljas hinüber, und er mied ihre Blicke. Sie trat in die Mitte des Zimmers und neigte den Kopf zur Seite.

»Das Spielzeug«, sagte sie, »und du willst nicht mit?«

»Ich kann nicht, Nino.«

»Dein Ahne fiel an der Brücke von Gandscha. Ich weiß es seit der Maturaprüfung in Geschichte.«

Nino setzte sich auf den Boden und schrie plötzlich auf, wie ein wundes Tier an der Schwelle des Todes. Ihre Augen waren trocken, und ihr Körper zitterte. Sie schrie, und Iljas stürzte aus dem Zimmer.

»Ich komme doch nach, Nino. Ich komme bestimmt nach, in wenigen Tagen.«

Sie schrie, und unten sangen die Menschen das wilde Lied von der sterbenden Republik.

Plötzlich verstummte Nino und sah vor sich hin mit starren Augen. Dann erhob sie sich. Ich nahm die Koffer. Das Bündel mit dem Spielzeug lag in meinem Arm, und wir gingen schweigend die Hoteltreppe hinunter. Iljas Beg wartete im Wagen. Wir fuhren durch die überfüllten Straßen zum Bahnhof.

»Drei, vier Tage, Nino«, sprach Iljas, »nur drei, vier Tage, und Ali Khan ist bei Ihnen.«

»Ich weiß«, Nino nickte still. »Wir werden zuerst in Tiflis bleiben, und dann fahren wir nach Paris. Wir werden ein Haus mit einem Garten haben, und das nächste Kind wird ein Knabe sein.«

»So wird es sein, Nino, genau so.«

Meine Stimme klang klar und zuversichtlich. Sie drückte meine Hand und blickte in die Ferne.

Die Geleise glichen langen Schlangen, und der Zug tauchte aus der Dunkelheit auf wie ein böses Ungetüm.

Sie küßte mich flüchtig.

»Leb wohl, Ali Khan. In drei Tagen sehen wir uns.«

»Natürlich, Nino, und dann nach Paris.«

Sie lächelte, und ihre Augen waren wie weicher Samt. Ich blieb am Bahnhof stehen, unfähig, mich zu rühren, wie angewurzelt an den harten Asphalt. Iljas Beg brachte sie in ihr Abteil. Sie blickte zum Fenster hinaus und war still und verloren wie ein kleiner, erschrockener Vogel. Sie winkte, als der Zug abfuhr, und Iljas Beg sprang vom Wagen.

Wir fuhren zur Stadt. Ich dachte an die Republik, die nur noch wenige Tage zu leben hatte.

Der Morgen graute, und die Stadt glich einem Waffenlager. Die Bauern kamen aus den Dörfern und brachten verborgen gehaltene Maschinengewehre und Munition. Jenseits des Flußufers, im armenischen Stadtteil, fielen vereinzelte Schüsse. Drüben lag bereits Rußland. Die rote Reiterarmee ergoß sich über das Land, und in der Stadt tauchte ein Mann auf mit buschigen Augenbrauen, gebogener Nase und tiefsitzenden Augen: Prinz Mansur Mirza Kadschar. Niemand wußte, wer er war und woher er kam. Er stammte aus der kaiserlichen Sippe der Kadscharen, und an seiner Mütze leuchtete der silberne Löwe von Iran. Er ergriff die Führung mit der Selbstverständlichkeit eines Erben des großen Aga Mohammed. Russische Bataillone zogen gegen Gandscha, und die Stadt füllte sich mit Flüchtlingen aus Baku. Sie berichteten von erschossenen Ministern, von verhafteten Parlamentariern und von Leichen, die, an einen Stein gebunden, in die Tiefe des Kaspischen Meeres versenkt wurden.

»In der Moschee Taza Pir hat man einen Klub eingerichtet, und die Russen verprügelten Seyd Mustafa, als er an der Mauer beten wollte. Sie banden ihn fest und steckten ihm Schweinefleisch in den Mund. Später floh er nach Persien, zu seinem Onkel nach Mesched. Seinen Vater haben die Russen umgebracht.«