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Es war ein freies und seltsames Gefühl. Der Stadthauptmann fuhr in seinem Wagen vorbei, und ich brauchte weder strammzustehen noch militärisch zu grüßen, wie ich es acht Jahre lang hatte tun müssen. Die silberne Kokarde mit den Initialen des Bakuer Gymnasiums hatte ich feierlich von der Mütze abgetrennt. Ich lustwandelte als Privatmann, und einen Augenblick lang hatte ich sogar den Wunsch, mir öffentlich eine Zigarette anzuzünden. Die Abneigung gegen Tabak war aber doch stärker als die Versuchung der Freiheit. Ich ließ das Rauchen sein und bog in den Park ein.

Es war ein großer, staubiger Garten mit spärlichen, traurig dreinblickenden Bäumen und asphaltübergossenen Wegen. Rechts erhob sich die alte Festungsmauer. In der Mitte glänzten im weißen Marmor die dorischen Säulen des Stadtklubs. Zahllose Bänke füllten den Raum zwischen den Bäumen aus. Einige verstaubte Palmen gewährten drei Flamingos Obdach, die starr in die rote Kugel der untergehenden Sonne blickten. Unweit des Klubs war der Teich, das heißt ein ungeheures, mit Steinplatten ausgelegtes, rundes und tiefes Bassin, das nach der Absicht der Stadtverwaltung mit Wasser gefüllt und von schwimmenden Schwänen belebt werden sollte. Es blieb aber bei der guten Absicht. Wasser war teuer, und Schwäne gab es im ganzen Lande nicht. Das Bassin starrte ewig leer zum Himmel, wie das zerfressene Auge eines toten Zyklopen.

Ich setzte mich auf eine Bank. Die Sonne leuchtete hinter dem wirren Durcheinander der grauen, viereckigen Häuser und ihrer flachen Dächer. Der Schatten des Baumes hinter mir wurde lang. Eine Frau mit blaugestreiftem Schleier und klappernden Pantoffeln ging vorbei. Aus dem Schleier blickte raubvogelartig eine lange, gebogene Nase. Die Nase schnupperte mich an. Ich blickte weg. Eine seltsame Müdigkeit überfiel mich. Es war schön, daß Nino keinen Schleier trug und keine lange, gebogene Nase hatte. Nein, ich würde Nino nicht in den Schleier stecken. Oder vielleicht doch? Ich wußte es nicht mehr genau. Ich sah das Gesicht Ninos im Scheine der untergehenden Sonne. Nino Kipiani — schöner georgischer Name, ehrbare Eltern mit europäischen Neigungen. Was ging es mich an? Nino hatte eine helle Haut und große, lachende, funkelnde, dunkle kaukasische Augen unter langen, zarten Wimpern. Nur die Georgierin hat solche Augen voll milder Fröhlichkeit. Niemand sonst. Keine Europäerin. Keine Asiatin. Schmale, halbmondartige Augenbrauen und das Profil der Madonna. Ich wurde traurig. Der Vergleich betrübte mich. Es gibt so viele Vergleiche für einen Mann im Orient. Für diese Frauen bleibt nur der mit der christlichen Mirjam, dem Sinnbild einer fremden, unverständlichen Welt.

Ich senkte den Kopf. Vor mir lag der Asphaltweg des Gouverneursgartens, vom Staub der großen Wüste bedeckt. Der Sand blendete. Ich schloß die Augen. Da ertönte an meiner Seite ein freies, heiteres Lachen.

»Heiliger Georg! Da sieh den Romeo, der in der Erwartung seiner Giulietta einschläft.«

Ich sprang auf. Neben mir stand Nino. Sie trug noch immer die sittsame, blaue Uniform des Lyzeums der hl. Tamar. Sie war sehr schlank, viel zu schlank für den Geschmack des Orients. Doch gerade dieser Fehler erweckte in mir ein zärtliches Mitgefühl. Sie war siebzehn Jahre alt, und ich kannte sie seit dem ersten Tag, an dem sie die Nikolaistraße hinauf zum Lyzeum ging.

Nino setzte sich. Ihre Augen leuchteten hinter dem feinen Netz der gebogenen georgischen Wimpern.

»Also doch bestanden? Ich hatte ein wenig Angst um dich.«

Ich legte meinen Arm um ihre Schulter.

»Es war ein bißchen aufregend. Aber du siehst, Gott hilft dem Frommen.«

Nino lächelte.

»In einem Jahr mußt du bei mir die Rolle des lieben Gottes übernehmen. Ich rechne damit, daß du bei unserer Prüfung unter meiner Bank sitzen und mir in der Mathematik die Auflösungen zuflüstern wirst.«

Das war abgemacht seit vielen Jahren, seit dem Tage, als Nino zwölfjährig und in Tränen aufgelöst in der großen Pause zu uns hinübergelaufen kam und mich in ihr Klassenzimmer schleppte, wo ich dann eine ganze Stunde hindurch unter ihrer Bank saß und ihr die Lösung der mathematischen Aufgaben zuflüsterte. Seit jenem Tage bin ich in den Augen Ninos ein Held.

»Was macht dein Onkel mit seinem Harem?« fragte Nino.

Ich machte ein ernstes Gesicht. Eigentlich waren die Angelegenheiten des Harems ein Geheimnis. Vor Ninos harmloser Neugier aber schmolzen alle Gesetze der östlichen Sittsamkeit. Meine Hand vergrub sich in ihre weichen, schwarzen Haare.

»Der Harem meines Onkels ist im Begriff, in die Heimat abzureisen. Die westliche Medizin soll überraschenderweise geholfen haben. Allerdings ist der Beweis noch nicht erbracht. Guter Hoffnung ist vorläufig erst der Onkel und nicht die Tante Zeinab.«

Nino runzelte ihre kindliche Stirn.

»Schön ist das alles nicht. Mein Vater und meine Mutter sind sehr dagegen, der Harem ist etwas Schändliches.«

Sie sprach wie eine Schülerin, die ihre Klassenarbeit hersagt. Meine Lippen berührten ihr Ohr.

»Ich werde keinen Harem haben, Nino, ganz bestimmt nicht.«

»Aber du wirst vermutlich deine Frau in den Schleier stecken!«

»Vielleicht, je nachdem. Ein Schleier ist ganz nützlich. Er schützt vor Sonne, Staub und fremden Blicken.«

Nino errötete.

»Du wirst immer ein Asiate bleiben, Ali, was stören dich fremde Blicke? Eine Frau will gefallen.«

»Aber nur ihrem Mann. Ein offenes Gesicht, ein nackter Rücken, ein zur Hälfte entblößter Busen, durchsichtige Strümpfe auf schlanken Beinen — das alles sind Versprechen, die eine Frau erfüllen muß. Ein Mann, der von einer Frau so viel sieht, will auch mehr sehen. Um den Mann vor solchen Wünschen zu schützen, ist der Schleier da.«

Nino sah mich verwundert an.

»Glaubst du, daß in Europa siebzehnjährige Mädchen und neunzehnjährige Knaben auch über solche Dinge reden?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Dann wollen wir auch nicht mehr darüber sprechen«, sagte Nino streng und preßte die Lippen zusammen.

Meine Hand glitt über ihre Haare. Sie hob den Kopf. Der letzte Strahl der untergehenden Sonne fiel auf ihre Augen. Ich beugte mich zu ihr… Ihre Lippen öffneten sich sanft und willenlos. Ich küßte sie sehr lang und sehr ungebührlich. Sie atmete schwer. Ihre Augen schlossen sich, und die Schatten ihrer Wimpern verdeckten ihr Gesicht. Dann riß sie sich los. Wir schwiegen und starrten in die Dämmerung. Nach einer Weile erhoben wir uns etwas verschämt. Hand in Hand gingen wir aus dem Garten.

»Ich sollte doch einen Schleier tragen«, sagte sie vor dem Ausgang.

»Oder dein Versprechen erfüllen.«

Sie lächelte verlegen. Es war alles wieder gut und einfach. Ich begleitete sie bis zu ihrem Haus.

»Ich komme natürlich zu eurem Ball!« sagte sie zum Abschied.

Ich hielt ihre Hand. »Was machst du im Sommer, Nino?«

»Im Sommer? Wir fahren nach Schuscha in Karabagh. Du sollst dir aber nichts einbilden. Das bedeutet noch lange nicht, daß auch du nach Schuscha fahren sollst.«

»Also schön, dann sehen wir uns im Sommer in Schuscha.«

»Du bist unausstehlich. Ich weiß nicht, warum ich dich gern habe.«

Die Tür fiel hinter ihr zu. Ich ging nach Hause. Der Eunuch des Onkels, der mit dem weisen Gesicht einer ausgetrockneten Eidechse, grinste mich an.

»Georgische Frauen sind sehr schön, Khan. Man soll sie nicht so offen küssen, im Garten, wo viele Leute vorbeigehen.«

Ich kniff ihn in seine fahle Wange. Ein Eunuch darf sich jede Frechheit leisten. Er ist weder Mann noch Frau. Er ist ein Neutrum.

Ich ging zu meinem Vater.

»Du hast mir drei Wünsche geschenkt. Den ersten weiß ich schon. Ich will diesen Sommer allein in Karabagh verbringen.«

Der Vater blickte mich lange an und nickte dann lächelnd.