4. Kapitel
Seinal Aga war ein einfacher Bauer aus dem Dorfe Binigady bei Baku. Er besaß ein Stück staubigen, trockenen Wüstenbodens, das er so lange beackerte, bis ein kleines Alltagserdbeben in seinem armseligen Besitz eine Spalte aufriß und aus der Spalte Ströme von Öl hervorschossen. Seinal Aga brauchte von nun ab weder geschickt noch klug zu sein. Er konnte dem Gelde einfach nicht mehr entrinnen. Er gab es aus, freigiebig und verschwenderisch, doch das Geld nahm zu und lastete auf ihm, bis es ihn zermürbt hatte. Irgendwann mußte ja diesem Glück auch die Strafe folgen, und Seinal Aga lebte in Erwartung der Strafe, wie ein Verurteilter in Erwartung der Hinrichtung. Er baute Moscheen, Krankenhäuser, Gefängnisse. Er pilgerte nach Mekka und gründete Kinderasyle. Aber das Unglück ließ sich nicht bestechen. Seine achtzehnjährige Frau, die er im Alter von siebzig Jahren geheiratet hatte, entehrte ihn. Er rächte seine Ehre, wie es sich gebührte, grausam und hart, und wurde darüber ein müder Mann. Seine Familie zerfiel, ein Sohn verließ ihn, ein anderer brachte unsagbare Schande über ihn durch das Verbrechen des Selbstmordes.
Nun lebte er in den vierzig Zimmern seines Bakuer Palastes, grau, traurig, gebückt. Iljas Beg, der einzige ihm verbliebene Sohn, war unser Klassenkamerad, und so fand der Abiturientenball bei Seinal Aga statt, in dem größten Saal des Hauses, dessen riesige Decke ganz aus mattem Bergkristall bestand.
Um acht Uhr schritt ich die breite Marmortreppe hinauf. Oben begrüßte Iljas Beg die Gäste. Gleich mir trug er die Tscherkessentracht mit einem eleganten, schmalen Dolch im Gurt. Gleich mir legte auch er die Lammfellmütze nicht ab, ein Privileg, das nunmehr auch uns zustand.
»Seljam-Alejkum, Iljas Beg!« rief ich und berührte mit der rechten Hand die Mütze.
Wir reichten uns die Hände nach alter einheimischer Sitte: meine rechte Hand drückte seine Rechte und seine Linke meine Linke.
»Heute wird das Leprasorium geschlossen«, flüsterte mir Iljas Beg zu.
Ich nickte vergnügt.
Das Leprasorium war das Geheimnis und die Erfindung unserer Klasse. Die russischen Lehrer, auch wenn sie jahrelang in unserer Stadt wirkten, hatten vom Lande ringsum nicht die geringste Vorstellung. So hatten wir ihnen eingeredet, daß sich in der Nähe von Baku ein Leprasorium befinde. Wenn einige von uns die Schule schwänzen wollten, so erschien der Klassenälteste beim Klassenvorstand und meldete zähneklappernd, daß aus dem Leprasorium einige Kranke in die Stadt entflohen seien. Die Polizei suche sie. Man vermute, daß sie sich in dem Stadtteil verborgen hielten, in dem die betreffenden Schüler wohnten. Der Klassenvorstand wurde bleich und beurlaubte die Schüler bis zur Festnahme der Kranken. Das konnte eine Woche dauern oder auch mehr, je nachdem. Keinem Lehrer kam es noch in den Sinn, sich bei der Sanitätsbehörde zu erkundigen, ob es in der Nähe der Stadt auch tatsächlich ein Leprasorium gebe. Offensichtlich trauten die Lehrer unserem unheimlichen Lande alles zu. Heute aber sollte das Leprasorium feierlich geschlossen werden.
Ich trat in den bereits überfüllten Saal. In der Ecke saß mit vornehm feierlicher Miene, von Lehrern umgeben, unser Schuldirektor, der Wirkliche Geheime Rat Wassili Grigorjewitsch Chrapko. Ich näherte mich ihm und verbeugte mich ehrfurchtsvoll. Ich war der Sprecher der mohammedanischen Schüler vor dem Direktor, da ich einen affenartigen Instinkt für Sprachen und Dialekte besaß. Während die meisten von uns schon beim ersten russischen Satz ihre nichtrussische Abstammung verrieten, beherrschte ich sogar die einzelnen russischen Dialekte. Unser Direktor stammte aus Petersburg, deshalb mußte man mit ihm petersburgisch sprechen, das heißt, die Konsonanten lispeln und die Vokale verschlucken. Es klingt nicht schön, aber ungeheuer fein. Der Direktor merkte den Spott nie und freute sich über die »fortschreitende Russifizierung dieses fernen Randgebietes«.
»Guten Abend, Herr Direktor«, sagte ich bescheiden.
»Guten Abend, Schirwanschir, haben Sie sich schon von dem Maturaschreck erholt?«
»O ja, Herr Direktor. Aber inzwischen habe ich eine scheußliche Sache erlebt.«
»Was denn?«
»Na, die Sache mit dem Leprasorium. Mein Vetter Suleiman war dabei. Er ist doch Leutnant beim Sarjan-Regiment. Er ist seitdem ganz krank, und ich mußte ihn pflegen.«
»Was ist denn los mit dem Leprasorium?«
»Oh? Herr Direktor wissen nichts?! Sämtliche Kranke waren ausgebrochen und marschierten gestern auf die Stadt zu. Zwei Rotten des Saljan-Regimentes mußten gegen sie geschickt werden. Die Kranken hatten zwei Dörfer besetzt. Die Soldaten umlagerten die Dörfer und schossen alle, Gesunde und Kranke, nieder. Zur Zeit werden die Häuser in Brand gesetzt. Ist das nicht schrecklich, Herr Direktor? Das Leprasorium existiert nicht mehr. Die Kranken, mit abgefallenen Gliedern, faulenden Fleischstücken, zum Teil noch röchelnd, liegen vor den Toren der Stadt und werden langsam mit Petroleum übergossen und verbrannt.«
Dem Direktor trat der Schweiß auf die Stirn. Wahrscheinlich überlegte er sich, ob es nicht doch an der Zeit wäre, den Minister um Versetzung in eine zivilisiertere Gegend zu bitten.
»Schreckliches Land, schreckliche Menschen«, sagte er betrübt. »Aber da merkt ihr, Kinder, wie wichtig es ist, eine geordnete Verwaltung und rasch handelnde Behörden zu haben.«
Die Klasse umringte den Direktor und hörte schmunzelnd dem Vortrag über den Segen der Ordnung zu. Das Leprasorium war beerdigt. Unsere Nachfolger sollten sich selber etwas einfallen lassen.
»Wissen Herr Direktor, daß der Sohn von Mehmed Haidar schon das zweite Jahr unser Gymnasium besucht?« fragte ich ganz harmlos.
»Waaaas?!«
Die Augen des Direktors quollen hervor. Mehmed Haidar war die Schande des Gymnasiums. Er blieb in jeder Klasse mindestens drei Jahre sitzen. Mit sechzehn Jahren hatte er geheiratet, besuchte aber trotzdem weiter die Schule. Sein Sohn war neun Jahre alt und trat in dieselbe Anstalt ein. Zuerst versuchte der glückliche Vater diese Tatsache zu verheimlichen. Einmal aber trat das kleine, rundliche Kind mitten in der großen Pause an ihn heran und sagte auf tatarisch mit unschuldigen, großen Augen: »Papa, wenn du mir keine fünf Kopeken für Schokolade gibst, erzähle ich der Mama, daß du die Mathematikaufgabe abgeschrieben hast.«
Mehmed Haidar schämte sich maßlos, haute den frechen Bengel durch und bat uns, den Direktor bei passender Gelegenheit schonend von seiner Vaterschaft zu verständigen.
»Behaupten Sie am Ende, daß der Schüler der sechsten Klasse, Mehmed Haidar, einen Sohn hat, der bereits die erste Klasse besucht?« fragte der Direktor.
»So ist es. Er bittet Sie sehr um Verzeihung. Er will aber, daß sein Sohn gleich ihm ein Gelehrter wird. Es ist wirklich rührend, wie der Drang nach westlichem Wissen immer größere Kreise erfaßt.«
Der Direktor wurde rot. Er überlegte stumm, ob die Tatsache, daß Vater und Sohn dieselbe Schule besuchen, nicht doch gegen irgendeine Schulregel verstoße. Er konnte es aber nicht entscheiden. Und so durften Papa und Söhnchen auch weiterhin die Burg des westlichen Wissens belagern.
Eine kleine Nebentür des Saales öffnete sich. Die schwere Portiere wurde beiseitegeschoben. Ein zehnjähriger Knabe führte vier dunkelhäutige, blinde Männer an der Hand, Musikanten aus Persien. Die Männer setzten sich auf den Teppich in der Ecke des Saales. Seltsame Instrumente uralter persischer Heimarbeit kamen zum Vorschein. Ein klagender Laut ertönte. Einer der Musikanten führte die Hand zum Ohr. Die klassische Geste des orientalischen Sängers.
Im Saal wurde es still. Nun schlug ein anderer begeistert das Tamburin. Der Sänger sang in hohem Falsett:
»Wie ein persischer Degen ist deine Gestalt,
Dein Mund wie glühender Rubin.
Wär’ ich der türkische Sultan, nähm’ ich dich zur Frau.
Perlen würde ich dir in die Zöpfe flechten,