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Schon auf dem Wege nach Schuscha sagte der Kutscher, als wir über eine kleine Steinbrücke kamen:

»Diese Brücke hat Alexander der Große erbaut, als er zu unsterblichen Taten nach Persien zog.«

An der niederen Brüstung war groß die Jahreszahl »1897« eingemeißelt. Ich zeigte sie dem Kutscher, doch dieser winkte ab:

»Ach, Herr, das haben die Russen später eingesetzt, um unsern Ruhm zu schmälern.«

Schuscha war eine wunderliche Stadt. Fünftausend Meter hoch, von Armeniern und Mohammedanern bewohnt, bildete sie seit Jahrhunderten eine Brücke zwischen Kaukasus, Persien und Türkei. Es war eine schöne Stadt, umgeben von Bergen, Wäldern und Flüssen. Auf den Bergen und in den Tälern erhoben sich kleine Lehmhütten, die man hier in kindlicher Vermessenheit Paläste nannte. Dort wohnten die eingeborenen Feudalen, die armenischen Meliks und Nacharars und die mohammedanischen Begs und Agalars. Stundenlang saßen diese Menschen an der Schwelle ihrer Häuser, rauchten ihre Pfeifen und erzählten einander, wie oft Rußland und der Zar von Generälen aus Karabagh gerettet worden seien und was wohl aus dem großen Reich geworden wäre, wenn es kein Karabagh gäbe.

Sieben Stunden fuhren wir von der kleinen Eisenbahnhaltestelle mit dem Pferdewagen die steilen Serpentinen nach Schuscha hinauf — wir, das heißt ich und mein Kotschi. Kotschis sind dem Beruf nach bewaffnete Diener, der Neigung nach Räuber. Sie bewachen die Häuser und die Menschen in den Häusern. Sie haben martialische Gesichter, sind mit Waffen behängt und in düsteres Schweigen gehüllt. Vielleicht birgt dieses Schweigen die Erinnerungen an heldenhafte Raubtaten, vielleicht birgt es gar nichts. Mein Vater gab mir den Kotschi mit auf den Weg, damit er mich vor den Fremden oder die Fremden vor mir schütze. Das war mir nicht ganz klar geworden. Der Mann war gefällig, irgendwie mit dem Hause Schirwanschir verschwägert, und zuverlässig, wie es Verwandte nur im Orient sein können.

Fünf Tage saß ich nun in Schuscha, wartete auf Ninos Ankunft, ließ mir von früh bis spät erzählen, daß alle reichen, tapferen oder sonstwie bedeutenden Menschen der Welt von hier stammen, schaute mir den Stadtpark an und zählte die Kirchenkuppeln und Minaretts. Schuscha war offensichtlich eine sehr fromme Stadt. Siebzehn Kirchen und zehn Moscheen waren für 60000 Einwohner reichlich genug. Hinzu kamen noch unzählige Heiligtümer in der Nähe der Stadt und an erster Stelle natürlich das berühmte Grab, die Kapelle und die zwei Bäume des heiligen Sary Beg, wohin mich die karabaghischen Prahlhänse schon am ersten Tag schleppten.

Das Grab des Heiligen ist eine Stunde von Schuscha entfernt. Alljährlich pilgert zu ihm die ganze Stadt und feiert Gelage im heiligen Hain. Besonders fromme Leute legen den Weg dorthin auf den Knien zurück. Das ist beschwerlich, hebt aber außerordentlich das Ansehen des Pilgers. Die Bäume am Grabe des Heiligen dürfen nicht berührt werden. Wer auch nur ein Blatt am Baume anrührt, wird sofort gelähmt. So gewaltig ist die Macht des heiligen Sary Beg! Welche Wunder dieser Heilige vollbracht hat, konnte mir niemand erklären. Dafür berichteten mir die Leute ausführlich, wie er einst, von Feinden verfolgt, hoch zu Roß den Berg hinaufritt, auf dessen Gipfel noch heute Schuscha steht. Ganz nahe schon waren seine Verfolger. Da holte sein Pferd zu einem gewaltigen Sprung aus, über den Berg, über die Felsen, über die ganze Stadt Schuscha hinweg. An der Stelle, wo das Pferd landete, kann der Fromme auch heute noch, tief in den Stein gegraben, die Hufeisenspur des edlen Tieres sehen. So versicherten mir wenigstens die Leute. Als ich einige Bedenken über Möglichkeit dieses Sprunges äußerte, sagten sie entrüstet: »Aber, Herr, es war doch ein Pferd aus Karabagh!« Und dann erzählten sie mir die Sage vom karabaghischen Pferd: Alles sei in ihrem Lande schön. Am schönsten aber sei das Pferd von Karabagh, jenes berühmte Pferd, für das Aga Mohammed, Schah von Persien, seinen ganzen Harem abgeben wollte. (Wußten meine Freunde, daß Aga Mohammed ein Eunuch war?) Dieses Pferd sei beinahe heilig. Jahrhundertelang hatten die Weisen gegrübelt und gepaart, bis dieses Wunder der Zucht geboren war: das beste Pferd der Welt, das berühmte rotgelbe Edeltier aus Karabagh.

Von so viel Lob neugierig gemacht, bat ich, mir eines der herrlichen Rosse zu zeigen. Meine Begleiter blickten mich mitleidig an.

»Es ist leichter, in den Harem des Sultans einzudringen, als in den Stall des Karabagher Pferdes. Es gibt in ganz Karabagh keine zwölf echte rotgelbe Tiere. Wer sie sieht, wird zum Pferdedieb. Nur wenn Krieg ist, besteigt der Besitzer sein rotgelbes Wunder.«

Ich mußte mich also mit dem begnügen, was man mir von dem sagenhaften Pferd erzählte, und kehrte nach Schuscha zurück. Da saß ich nun, hörte mir das Geschwätz des alten Mustafa an, wartete auf Nino und fühlte mich wohl in diesem Märchenland.

»O Khan«, sagte Mustafa, »deine Ahnen haben Kriege geführt, du aber bist ein gelehrter Mensch und hast das Haus des Wissens besucht. Du wirst also auch von den schönen Künsten gehört haben. Die Perser sind stolz auf Saadi, Hafis und Firdausi, die Russen auf Puschkin, und weit im Westen gab es einen Dichter, der hieß Goethe und hat ein Gedicht über den Teufel geschrieben.«

»Stammen alle diese Dichter auch aus Karabagh?« unterbrach ich ihn.

»Das nicht, edler Gast, aber unsere Dichter sind besser, auch wenn sie sich weigern, Klänge in tote Buchstaben einzufangen. In ihrem Stolz schreiben sie ihre Gedichte nicht nieder, sondern sagen sie nur auf.«

»Welche Dichter meinst du? Die Aschuken?«

»Ja, die Aschuken«, sagte der Alte gewichtig, »sie wohnen in den Dörfern bei Schuscha und haben morgen einen Wettbewerb. Willst du hinfahren und staunen?«

Ich wollte. Am nächsten Tag fuhr unser Wagen die Serpentinen hinab, zum Dorfe Tasch-Kenda, der Hochburg der kaukasischen Dichtkunst.

Fast in jedem Dorfe Karabaghs sitzen einheimische Sänger, die den Winter über dichten und im Frühjahr in die Welt hinausziehen, um in Palästen und Hütten ihre Lieder vorzutragen. Drei Dörfer aber gibt es, die ausschließlich von Dichtern bewohnt sind und zum Zeichen der hohen Achtung, die der Orient vor der Poesie hegt, seit alters her von allen Abgaben und Steuern an die einheimischen Feudalen befreit sind. Eines dieser Dörfer ist Tasch-Kenda.

Der erste Blick genügte, um festzustellen, daß die Bewohner dieses Dorfes keine gewöhnliche Bauern waren. Die Männer trugen lange Haare, Seidengewänder und blickten einander mißtrauisch an. Die Frauen liefen hinter ihren Männern her, machten einen gedrückten Eindruck und trugen die Musikinstrumente. Das Dorf war voll von reichen Armeniern und Mohammedanern, die aus dem ganzen Lande herbeiströmten, um die Aschuken zu bewundern. Am kleinen Hauptplatz des Dichterdorfes versammelte sich die schaulustige Menge. In der Mitte standen die beiden streitbaren Sängerfürsten, die hier einen erbitterten Zweikampf ausfechten sollten. Sie blickten einander höhnisch an. Ihre langen Haare flatterten im Wind. Der eine Aschuk rief:

»Deine Kleidung stinkt nach Mist, dein Antlitz gleicht dem Gesicht eines Schweines, dein Talent ist dünn wie das Haar am Bauche einer Jungfrau, und für etwas Geld bist du bereit, ein Schmähgedicht auf dich selbst zu dichten.«

Der andere antwortete grimmig und bellend:

»Du trägst das Gewand eines Lustknaben und hast die Stimme eines Eunuchen. Du kannst dein Talent nicht verkaufen, da du nie welches gehabt hast. Du lebst von den Krümchen, die vom festlichen Tisch meiner Gaben herabfallen.«

So beschimpften sie sich inbrünstig und etwas eintönig eine ganze Weile. Das Volk klatschte Beifall. Dann erschien ein grauhaariger Greis mit dem Gesicht eines Apostels und nannte zwei Themen für den Wettbewerb, ein lyrisches und ein episches: »Der Mond über dem Araxes« und »Der Tod Aga Mohammed Schahs«.

Die beiden Dichter blickten gen Himmel. Dann sangen sie. Sie sangen von dem grimmigen Eunuchen Aga Mohammed, der nach Tiflis zog, um im dortigen Schwefelbad seine Manneskraft wieder zu gewinnen. Als das Bad versagte, zerstörte der Eunuche die Stadt und ließ alle Frauen und Männer grausam hinrichten. Aber auf dem Rückwege in Karabagh ereilte ihn sein Schicksal. Als er in Schuscha übernachtete, wurde er, in seinem Zelte schlafend, erdolcht. Der große Schah hat vom Leben nichts gehabt. Er hungerte in den Feldzügen. Aß schwarzes Brot und trank saure Milch. Er eroberte unzählige Länder und war ärmer als ein Bettler aus der Wüste. Der Eunuche Aga Mohammed.