»Ich fürchte es fast, Raupe« sagte Alice, »ich kann Sachen nicht behalten wie sonst, und ich werde alle zehn Minuten größer oder kleiner!«
»Kannst welche Sachen nicht behalten?« fragte die Raupe.
»Ach, ich habe versucht zu sagen: Bei einem Wirthe etc.; aber es kam ganz anders!« antwortete Alice in niedergeschlagenem Tone.
»Sage her: Ihr seid alt, Vater Martin,« sagte die Raupe.
Alice faltete die Hände und fing an: -
»Als ich jung war,« der Vater zur Antwort gab,
»Da glaubt' ich, für's Hirn sei's nicht gut;
Doch seit ich entdeckt, daß ich gar keines hab',
So thu' ich's mit fröhlichem Muth.«
»Ihr seid alt,« sprach der Sohn, »wie vorhin schon gesagt,
Und geworden ein gar dicker Mann;
Drum sprecht, wie ihr rücklings den Purzelbaum schlagt.
Potz tausend! wie fangt ihr's nur an?«
»Als ich jung war,« der Alte mit Kopfschütteln sagt',
»Da rieb ich die Glieder mir ein
Mit der Salbe hier, die sie geschmeidig macht.
Für zwei Groschen Courant ist sie dein.«
»Das ist nicht richtig,« sagte die Raupe.
»Nicht ganz richtig, glaube ich,« sagte Alice schüchtern; »manche Wörter sind anders gekommen.«
»Es ist von Anfang bis zu Ende falsch,« sagte die Raupe mit Entschiedenheit, worauf eine Pause von einigen Minuten eintrat.
Die Raupe sprach zuerst wieder.
»Wie groß möchtest du gern sein?« fragte sie.
»Oh, es kommt nicht so genau darauf an,« erwiederte Alice schnell; »nur das viele Wechseln ist nicht angenehm, nicht wahr?«
»Nein, es ist nicht wahr!« sagte die Raupe.
Alice antwortete nichts; es war ihr im Leben nicht so viel widersprochen worden, und sie fühlte, daß sie wieder anfing, empfindlich zu werden.
»Bist du jetzt zufrieden?« sagte die Raupe.
»Etwas größer, Frau Raupe, wäre ich gern, wenn ich bitten
darf,« sagte Alice; »drei und einen halben Zoll ist gar zu winzig.«
»Es ist eine sehr angenehme Größe, finde ich,« sagte die Raupe zornig und richtete sich dabei in die Höhe (sie war gerade drei Zoll hoch).
»Aber ich bin nicht daran gewöhnt!« vertheidigte sich die arme Alice in weinerlichem Tone. Bei sich dachte sie: »Ich wünschte, alle diese Geschöpfe nähmen nicht Alles gleich übel.«
»Du wirst es mit der Zeit gewohnt werden,« sagte die Raupe, steckte ihre Huhka in den Mund und fing wieder an zu rauchen.
Diesmal wartete Alice geduldig, bis es ihr gefällig wäre zu reden. Nach zwei oder drei Minuten nahm die Raupe die Huhka aus dem Munde, gähnte ein bis zwei Mal und schüttelte sich. Dann kam sie von dem Pilze herunter, kroch in's Gras hinein und bemerkte blos bei'm Weggehen: »Die eine Seite macht dich größer, die andere Seite macht dich kleiner.«
»Eine Seite wovon? die andere Seite wovon?« dachte Alice bei sich.
»Von dem Pilz,« sagte die Raupe, gerade als wenn sie laut gefragt hätte; und den nächsten Augenblick war sie nicht mehr zu sehen.
Alice blieb ein Weilchen gedankenvoll vor dem Pilze stehen, um ausfindig zu machen, welches seine beiden Seiten seien; und da er vollkommen rund war, so fand sie die Frage schwierig zu beantworten. Zuletzt aber reichte sie mit beiden Armen, so weit sie herum konnte, und brach mit jeder Hand etwas vom Rande ab.
»Nun aber, welches ist das rechte ?« sprach sie zu sich, und biß ein wenig von dem Stück in ihrer rechten Hand ab, um die Wirkung auszuprobiren; den nächsten Augenblick fühlte sie einen heftigen Schmerz am Kinn, es hatte an ihren Fuß angestoßen!
Über diese plötzliche Verwandlung war sie sehr erschrocken, aber da war keine Zeit zu verlieren, da sie sehr schnell kleiner wurde; sie machte sich also gleich daran, etwas von dem andern Stück zu essen. Ihr Kinn war so dicht an ihren Fuß gedrückt, daß ihr kaum Platz genug blieb, den Mund aufzumachen; endlich aber gelang es ihr, ein wenig von dem Stück in ihrer linken Hand herunter zu schlucken.
* * * * * * * * * * *
»Ah! endlich ist mein Kopf frei!« rief Alice mit Entzücken, das sich jedoch den nächsten Augenblick in Angst verwandelte, da sie merkte, daß ihre Schultern nirgends zu finden waren: als sie hinunter sah, konnte sie weiter nichts erblicken, als einen ungeheuer langen Hals, der sich wie eine Stange aus einem Meer von grünen Blättern erhob, das unter ihr lag.
»Was mag all das grüne Zeug sein?« sagte Alice. »Und wo sind meine Schultern nur hingekommen? Und ach, meine armen Hände, wie geht es zu, daß ich euch nicht sehen kann?« Sie griff bei diesen Worten um sich, aber es erfolgte weiter nichts, als eine kleine Bewegung in den entfernten grünen Blättern.
Da es ihr nicht gelang, die Hände zu ihrem Kopfe zu erheben, so versuchte sie, den Kopf zu ihnen hinunter zu bücken, und fand zu ihrem Entzücken, daß sie ihren Hals in alle Richtungen biegen und wenden konnte, wie eine Schlange. Sie hatte ihn gerade in ein malerisches Zickzack gewunden und wollte eben in das Blättermeer hinunter tauchen, das, wie sie sah, durch die Gipfel der Bäume gebildet wurde, unter denen sie noch eben herum gewandert war, als ein lautes Rauschen sie plötzlich zurückschreckte: eine große Taube kam ihr in's Gesicht geflogen und schlug sie heftig mit den Flügeln.
»Schlange!« kreischte die Taube.
»Ich bin keine Schlange!« sagte Alice mit Entrüstung. »Laß mich in Ruhe!«
»Schlange sage ich!« wiederholte die Taube, aber mit gedämpfter Stimme, und fuhr schluchzend fort: »Alles habe ich versucht, und nichts ist ihnen genehm!«
»Ich weiß gar nicht, wovon du redest,« sagte Alice.
»Baumwurzeln habe ich versucht, Flußufer habe ich versucht, Hecken habe ich versucht,« sprach die Taube weiter, ohne auf sie zu achten; »aber diese Schlangen! Nichts ist ihnen recht!«
Alice verstand immer weniger; aber sie dachte, es sei unnütz etwas zu sagen, bis die Taube fertig wäre.
»Als ob es nicht Mühe genug wäre, die Eier auszubrüten,« sagte die Taube, »da muß ich noch Tag und Nacht den Schlangen aufpassen! Kein Auge habe ich die letzten drei Wochen zu-gethan!«
»Es thut mir sehr leid, daß du so viel Verdruß gehabt hast,« sagte Alice, die zu verstehen anfing, was sie meinte.
»Und gerade da ich mir den höchsten Baum im Walde ausgesucht habe,« fuhr die Taube mit erhobener Stimme fort, »und gerade da ich dachte, ich wäre sie endlich los, müssen sie sich sogar noch vom Himmel herunterwinden! Pfui! Schlange!«