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»Ja«, antwortete ich, »mit Umslopogaas ist nicht gut Kirschen essen. Wenn man ihn reizt, dann ist er wie ein Rasender; und doch hat er auf seine Weise ein weiches Herz. Ich erinnere mich noch, wie er vor Jahren mal wochenlang ein krankes Kind gesundpflegte. Er ist schon ein eigenartiger Mensch, aber er ist treu wie Gold und eine ehrliche Haut, und wenn Gefahr droht, dann ist er eine Stütze von unschätzbarem Wert.«

»Er sagt, er rieche Blut«, fuhr Mr. Mackenzie fort. »Ich will nur hoffen, daß er nicht recht behält. Ich beginne mir langsam große Sorgen wegen meiner Tochter zu machen. Sie muß sehr weit gegangen sein, sonst wäre sie schon längst wieder hier. Es ist schon halb vier.«

Ich erinnerte ihn daran, daß Flossie doch Proviant mitgenommen hatte und auch, wenn alles glatt abliefe, nicht vor Einbruch der Dunkelheit zu erwarten sei. Dabei machte ich mir längst selber große Sorgen und fürchtete, daß der Missionar nicht merken würde, wie wenig ich von dem, was ich gesagt hatte, überzeugt war.

Kurz darauf kehrten die Männer zurück, die Mr. Mackenzie ausgesandt hatte, um nach Flossie zu suchen. Sie hatten wohl die Fährte des Esels ein paar Meilen verfolgen können, hatten sie dann jedoch auf steinigem Boden verloren und nicht wiederfinden können. Daraufhin hatten sie die ganze Umgebung der Stelle, an der die Spur aufhörte, durchkämmt, jedoch ohne Erfolg.

Der Nachmittag schleppte sich träge dahin; die Stimmung war sehr gedrückt. Als allmählich die Abenddämmerung hereinbrach und von Flossie noch immer kein Lebenszeichen gekommen war, wuchs die Besorgnis fast ins Unerträgliche. Die arme Mutter schien von ihrer Furcht arg mitgenommen und machte einen äußerst niedergeschlagenen Eindruck. Der Vater indessen behielt einen bewundernswert kühlen Kopf. Alles, was getan werden konnte, wurde auch getan. In alle Himmelsrichtungen wurden erneut Späher ausgesandt; Schüsse wurden abgefeuert und der Ausguck auf dem großen Baum wurde nun ständig besetzt gehalten. Aber auch diese Maßnahmen fruchteten nichts.

Die Nacht kam, und von der kleinen blonden Flossie war nach wie vor nichts zu sehen.

Um acht Uhr aßen wir zu Abend. Es war ein trauriges Mahl, Mrs. Mackenzie war gar nicht bei Tisch erschienen. Wir drei schwiegen die ganze Zeit über; denn abgesehen von unserer natürlichen Sorge um das Verbleiben der kleinen Flossie lastete schwer das Gefühl auf uns, daß wir es waren, die unseren freundlichen Gastgeber in diese traurige Lage gebracht hatten. Kurz bevor das Essen beendet war, stand ich auf, entschuldigte mich und verließ die Tafel. Ich wollte nach draußen und die Situation überdenken. Ich ging auf die Veranda, zündete meine Pfeife an und setzte mich auf einen Stuhl, der etwa zwölf Fuß von der rechten Seite des Gebäudekomplexes entfernt stand, das heißt - der aufmerksame Leser wird sich gewiß daran erinnern - genau gegenüber einer der engen Türen des Schutzwalles, der das Haus und den Blumengarten umschloß. Ich hatte etwa sechs oder sieben Minuten dort gesessen, als ich glaubte, das Geräusch einer sich öffnenden oder schließenden Tür wahrzunehmen. Ich schaute angestrengt in die Richtung der Tür und horchte, aber da sich nichts tat, war ich ziemlich sicher, mich getäuscht zu haben. Es war stockfinster; der Mond war noch nicht aufgegangen.

Eine Minute war verstrichen, als plötzlich etwas Rundes mit einem weichen, dumpfen Aufschlag auf den Steinfußboden der Veranda fiel und an mir vorbeikullerte.

Ich blieb einen Moment lang regungslos sitzen und überlegte, was das Ding sein konnte. Ich kam schließlich zu dem Ergebnis, daß es sich um ein Tier handeln müsse. Da schoß mir mit einem Mal ein ganz anderer Gedanke durch den Kopf, und ich sprang mit einem Satz auf. Das runde Ding lag nur ein paar Schritte von mir entfernt regungslos auf dem Boden. Ich streckte meine Hand danach aus; es rührte sich nicht. Ein Tier war es also ganz eindeutig nicht. Ich berührte es vorsichtig mit der Hand. Es fühlte sich weich und warm an. Hastig hob ich es hoch und hielt es gegen das matte Licht der Sterne.

Es war ein frisch abgetrennter Menschenkopf!

Ich bin ein alter Haudegen und nicht mehr so leicht aus der Fassung zu bringen, aber ich gestehe freimütig, daß mir übel wurde beim Anblick dieses grausigen Fundes. Wie war der Kopf hierhergelangt? Wes-sen Kopf war es? Ich legte ihn wieder auf den Boden und rannte zu der schmalen Tür. Nichts zu hören, niemand zu sehen. Ich wollte schon in die Dunkelheit außerhalb des Schutzwalles hinausgehen, als mir bewußt wurde, daß ich damit riskierte, erstochen zu werden. Ich trat also wieder zurück in den Schutz der Mauer, zog die Tür zu und verriegelte sie. Dann ging ich zurück auf die Veranda und rief mit so ruhiger Stimme, wie ich konnte, Curtis. Anscheinend hatte mich dennoch der Klang meiner Stimme verraten, denn nicht nur Sir Henry kam aufgeregt herausgelaufen, sondern auch Good und Mackenzie hatten sich vom Tisch erhoben und kamen auf die Veranda.

»Was ist passiert?« rief der Geistliche mit nervöser Stimme.

Es blieb mir keine Wahl; ich mußte ihnen alles erzählen.

Mr. Mackenzie wurde unter seiner rosigen Gesichtshaut totenbleich. Wir standen unmittelbar neben der Flurtür, und in dem daraus fallenden Licht konnte ich alles recht gut erkennen. Mackenzie ergriff den Kopf bei den Haaren und hielt ihn ins Licht.

»Es ist der Kopf von einem der Männer, die Flossie begleitet haben«, brachte er keuchend hervor.

Wir standen wie angewurzelt da und starrten uns gegenseitig entsetzt an. Was sollten wir nun tun?

Im selben Moment klopfte es an der Tür, die ich gerade noch verriegelt hatte, und eine ängstliche Stimme rief: »Öffne, mein Vater, öffne!«

Die Tür wurde aufgeschlossen, und herein stürzte ein zu Tode verängstigter Mann. Es war einer der Späher, die Mackenzie ausgesandt hatte.

»Mein Vater«, schrie er, »die Masai sind hinter uns her! Ich sah eine riesige Anzahl von ihnen um den Hügel herumkommen. Sie sind auf dem Weg zu dem alten steinernen Kraal unten an dem kleinen Fluß. Mein Vater, mache dein Herz stark! Mitten unter ihnen sah ich den weißen Esel, und auf ihm ritt die Wasserrose (Flossie). Ein Elmoran führte den Esel und neben ihm ging weinend das Kindermädchen. Die Männer, die am Morgen mit ihr gegangen sind, konnte ich nicht erkennen.«

»Lebte das Kind?« fragte Mackenzie mit heiserer Stimme.

»Sie war weiß wie der Schnee, mein Vater, aber wohlbehalten. Sie kamen ganz dicht an mir vorbei, und als ich von meinem Versteck aufblickte, sah ich ganz deutlich ihr Gesicht im Licht der Sterne.«

»Gott stehe ihr und uns bei!« brachte der Geistliche mit einem Stöhnen hervor.

»Zu wie vielen sind sie?« wollte ich wissen.

»Mehr als zweihundert - zweihundert und ein halbes Hundert.«

Wieder warfen wir uns einen Blick zu. Was sollten wir in dieser Lage tun? Ein lautes, forderndes Rufen an der Tür schreckte uns aus unseren Gedanken auf.

»Öffne die Tür, weißer Mann; öffne die Tür! Hier ist ein Bote - ein Bote, der mit dir sprechen will.«

Umslopogaas rannte zur Mauer, hielt sich mit seinen langen Armen an der Krone fest, zog sich ein Stück hoch und schaute über die Mauer hinweg nach draußen.

»Ich sehe nur einen einzelnen Mann«, meldete er. »Er ist bewaffnet und trägt einen Korb bei sich.«

»Öffne die Tür!« rief ich ihm zu. »Nimm deine Axt, stell dich neben den Eingang und laß den Mann herein. Sollte noch ein weiterer folgen, dann töte ihn.«

Der Zulu öffnete die Tür. Rasch stellte er sich in den Schatten der Mauer und hob seine Axt, bereit, sofort zuzuschlagen. Just in diesem Augenblick ging der Mond auf. Ein paar Sekunden warteten wir gespannt, und dann kam ein Masai Elmoran zur Tür hereinstolziert. Er trug den vollen Kriegsschmuck, wie ich ihn schon beschrieben habe. Bei sich hatte er einen großen Korb. Die Spitze seines Speers blitzte hell im Mondlicht auf, während er auf uns zuging. Er war von athletischer Statur. Sein Alter schätzte ich auf etwa fünfunddreißig Jahre. Tatsächlich schien keiner der Masai, die ich bisher gesehen hatte, kleiner als sechs Fuß zu sein, obwohl die meisten von ihnen noch ziemlich jung waren. Der Masai blieb vor uns stehen, setzte den Korb ab und rammte seinen Speer in den Boden, so daß er aufrecht stand.